VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 17.04.2019 - 8 A 379/16 - asyl.net: M28059
https://www.asyl.net/rsdb/M28059
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz wegen Gefahr der Blutrache in Albanien:

1. Den Eltern und der minderjährigen Schwester eines jungen Mannes, der eine Frau aus einer Familie aus dem kriminellen Milieu geheiratet hat, obwohl diese schon einem anderen Mann "versprochen" war, droht in Albanien ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 AsylG.

2. In der Region Shkoder ist die Blutrache noch weit verbreitet.

3. Droht die Gefahr von einer einflussreichen Familie mit landesweiten Kontakten ins kriminelle Milieu, besteht weder Schutz z.B. durch die Polizei noch eine interne Fluchtalternative.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Albanien, Blutrache, Schutzfähigkeit, interner Schutz, interne Fluchtalternative, subsidiärer Schutz,
Normen: AsylG § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

Nach diesen Maßstäben können sich die Kläger auf den subsidiären Schutzstatus berufen. Ihnen droht bei einer Rückkehr nach Albanien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unter Heranziehung der Normen und Regelungen des in Albanien vielfach noch praktizierten Gewohnheitsrechtes, den Kanun, eine unmenschliche Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Die Kläger stammen aus der Region Shkoder, in der Blutrache nach den Regeln des Kanun bis heute praktiziert wird. Nach Anhörung der Kläger und der Klägerin in dem Verfahren 8 A 381/16 ist das Gericht zur Überzeugung gelangt, dass ihnen bei einer Rückkehr nach Albanien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit [der] Gefahr aus einer Blutfehde (vgl. zur Ausweitung der Blutfehde auch auf Frauen und Kinder die Anfragebeantwortung an ACCORD zu Albanien: "Blutfehden und staatlicher Schutz" vom 20. März 2019, www.ecoi.net/de/dokument/2005073.html, S. 2) droht. [...]

In Albanien ist es auch gegenwärtig noch durchaus üblich, dass Mädchen - insbesondere aus gut situierten Großfamilien - einem Mann versprochen werden. Die Nichteinhaltung eines solchen Eheversprechens gilt nicht selten als unverzeihliche Ehrverletzung. Die hier seitens des Bundesamtes angeführten Widersprüche/Unwahrheiten hinsichtlich der polizeilichen  Bescheinigung und der (bereits 2013 verstorbenen) Person des ... konnten für die Einzelrichterin hinreichend aufgeklärt bzw. als unbeachtlich eingestuft werden. Auch der Umstand, dass der Sohn der Kläger zu 1. und 2. nach erfolgloser Durchführung seines Asylverfahrens mit seiner Freundin nach Albanien zurückgekehrt ist und dort mit den gemeinsamen Kindern im Haus der Familie lebt, führt nicht zu einer anderen Bewertung. Denn die Kläger haben nachvollziehbar geschildert, dass ihr Sohn und seine Familie dort quasi unter Hausarrest stehen, das häusliche Umfeld praktisch nie verlassen, da nur dieser unmittelbar private Bereich auch nach dem Kanun als Schutzzone respektiert wird. Für die erkennende Einzelrichterin steht danach fest, dass die Aufnahme der Freundin seines Sohnes in die Familie eine Blutfehde seitens der Familie ... ausgelöst hat, welche aufgrund der erfolglosen Versöhnungsversuche weiter fortbesteht.

b. Der albanische Staat ist in diesem konkreten Einzelfall auch nicht in der Lage, den Klägern Schutz vor einem ernsthaften Schaden zu bieten (vgl. § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c Nr. 3 und § 3d AsylG). Denn der im Herkunftsland verfügbare staatliche Schutz gegen die Gefahr eines ernsthaften Schadens muss wirksam sein; nur dann stehen Schutzmöglichkeiten im Herkunftsstaat der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus entgegen (vgl. § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3 d Abs. 2 Satz 1 AsylG). Dazu muss der Herkunftsstaat indes in der Lage und willens sein, das Schutzsystem - mit den Mechanismen zur Ermittlung und Ahndung ernsthafter Schäden für die Betroffenen - so zu handhaben, dass die Gefahr ernsthafter Schäden minimal ist. Ein in diesem Sinne wirksamer staatlicher Schutz gegen die den Klägern drohende Gefahr ist in Albanien jedoch nicht gewährleistet. Der albanische Staat lehnt die Blutrache zwar ab, bekämpft sie und bemüht sich, Schutz vor ihr zu gewähren, dies jedoch aufgrund seiner begrenzten Kapazitäten und der langsamen und korruptionsanfälligen Justiz nur mit eingeschränktem Erfolg (Bericht des Auswärtigen Amtes im Hinblick auf die Einstufung von Albanien als sicheres Herkunftsland im Sinne des § 29a AsylG vom 10.08.2018, S. 11; vgl. auch Anfragebeantwortung an ACCORD, a.a.O., S. 8 ff.). So sind die vorsätzliche Tötung im Kontext von Blutrache oder Blutfehde und die Androhung von Blutrache zwar ausdrücklich strafbar; diese Strafandrohungen werden aber oft nur ungenügend umgesetzt, da das albanische Strafjustizsystem erhebliche Mängel aufweist und Korruption allgegenwärtig ist (vgl. Anfragebeantwortung an ACCORD, a.a.O., S. 8 ff.). Nach dieser Auskunftslage hat der Kläger in Albanien keine Aussicht auf einen wirksamen staatlichen Schutz gegen die ihm angedrohte Ermordung. Dies zeigt sich insbesondere daran, dass die Anfragen seiner Angehörigen keine Aussicht auf Erfolg hatten.

c. Ein interner Schutz im Sinne des § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e AsylG steht den Klägern in Albanien nicht zur Verfügung. Unter Berücksichtigung des vorliegenden Erkenntnismaterials und der konkreten Umstände des Falles kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Kläger in anderen Landesteilen Albaniens wirksamen und dauerhaften Schutz vor einem ernsthaften Schaden erlangen könnten. Für potenzielle Blutracheopfer, die von Gruppen des organisierten Verbrechens bedroht werden, sind die inländischen Fluchtalternativen begrenzt (so Bericht des Auswärtigen Amtes im Hinblick auf die Einstufung von Albanien als sicheres Herkunftsland im Sinne des § 29a AsylG vom 10.08.2018, S. 11). Nach den Angaben des Klägers zu 1. und seinen Angehörigen verfügt die Familie über viele Kontakte und gehört einem kriminellen Milieu an, so dass sie sich weiterhin verstecken müssten. Bei hartnäckiger Verfolgung bietet die Flucht an einen anderen Ort innerhalb Albaniens keinen völligen Schutz. Auch in der Hauptstadt Tirana und anderen urbanen Zentren kann eine gewisse Anonymität wegen der geringen Größe des Landes und seiner Bevölkerung jederzeit aufgelöst werden (vgl. Bericht des Auswärtigen Amtes im Hinblick auf die Einstufung von Albanien als sicheres Herkunftsland im Sinne des § 29a AsylG vom 10.08.2018, S. 11). Für die Kläger besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative deshalb nicht. [...]