VG Göttingen

Merkliste
Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 21.01.2020 - 4 A 136/18 - asyl.net: M28089
https://www.asyl.net/rsdb/M28089
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen drohender politischer Verfolgung in der Russischen Föderation:

1. Einer aus Tschetschenien stammenden Person, die wegen ihres ins Ausland geflohenen Cousins zweiten Grades mehrmals verhört und im Verhör auch misshandelt wurde, um an Informationen zu gelangen, droht bei ihrer Rückkehr erneut politische Verfolgung.

2. Im Fall einer - wie hier - staatlichen Verfolgung sind Erwägungen zu einer staatlichen Schutzgewährung nicht angezeigt.

3. Eine inländische Fluchtalternative steht in der Russischen Föderation in einem solchen Fall nicht zur Verfügung.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Russische Föderation, Tschetschenien, politische Verfolgung, interner Schutz, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, staatliche Verfolgung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3d, AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]

Der Kläger zu 1. hat in sich stimmig, nachvollziehbar und für das Gericht überzeugend dargelegt, dass er wegen eines fortbestehenden Verfolgungsinteresses der tschetschenischen und russischen Sicherheitskräfte an seinem ins europäische Ausland geflüchteten Cousin zweiten Grades selbst in diese betreffende Verfolgung einbezogen worden ist. Hier hat der Kläger zu 1. von Anfang an in sich stimmig mitgeteilt, dass er im Mai 2016 flüchtlingsrelevanten politischen Verfolgungsmaßnahmen durch tschetschenische und russische Sicherheitskräften ausgesetzt gewesen ist. Die betreffenden Schilderungen des Klägers zu 1. hat die Klägerin zu 2. mit ihrem inhaltsgleichen Vortrag glaubhaft bestätigt. So steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger zu 1. am ... 2016 aus seinem Elternhaus, in das er mit seiner Familie wegen befürchteter Nachstellungen von einer Wohnung in ... umgezogen war, bis zum ... 2016 verschleppt worden ist und es bis zu seiner Freilassung zu gravierenden Misshandlungen und Übergriffen ihm gegenüber gekommen ist, um ihn zur Preisgabe von Informationen zu seinem Cousin und zu einer Mitarbeit als Spitzel zu zwingen. Unter den schweren Übergriffen und den gesundheitlichen Folgen hat der Kläger bis heute noch zu leiden. Dass diese gegenüber dem Kläger zu 1. erfolgten Misshandlungen und Übergriffe durch tschetschenische oder russische Sicherheitskräfte ausgeführt worden sind, besteht für das Gericht keinerlei Zweifel. Die betreffenden Übergriffe standen in eindeutigem Zusammenhang mit einem politischen Verfolgungsinteresse gegenüber seinem Cousin, dem regimefeindliches Verhalten vorgehalten worden ist. Von daher ist die Einbeziehung des Klägers zu 1. in diese Verfolgung seines Cousins ebenfalls eine eindeutige politische Verfolgung gegenüber dem Kläger zu 1. durch tschetschenische und russische Sicherheitskräfte, die an einer regimefeindlichen Einstellung und Unterstützung entsprechender Bestrebungen auch gegenüber dem Kläger zu 1. ansetzt. Zur Überzeugung des Gerichts steht auch fest, dass der Kläger zu 1. wegen einer unmittelbar bevorstehenden und erneut drohenden politischen Verfolgung sein Heimatland verlassen musste. Eine Schutzgewährung durch staatliche Sicherheitskräfte (etwa der Polizei) wäre zur Überzeugung des Gerichts niemals in Betracht gekommen, da die Verfolgungsmaßnahmen für das Gericht unzweifelhaft den staatlichen Sicherheitskräften zuzuordnen waren. Von daher sind Erwägungen zu einer staatlichen Schutzgewährung gegenüber dem Kläger zu 1. nicht angezeigt. Selbst wenn der Cousin des Klägers zwischenzeitlich nicht mehr leben sollte (wie der Kläger bei einem Telefonat erfahren haben will), steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger zu 1. im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit erneuten politischen Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen hat. Denn die bereits erfolgten Misshandlungen haben eindeutig und klar offenbart, dass die Sicherheitskräfte ein eigenes Verfolgungsinteresse an der Person des Klägers wegen unterstellter regimefeindlicher Einstellung und Bestrebungen haben.

Für den Kläger zu 1. besteht auch keine inländische Fluchtalternative im Sinne des § 3e Abs. 1 AsylG. Gemäß § 3e Abs. 2 Satz 1 AsylG sind bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslands die Voraussetzungen nach Abs. 1 erfüllt, die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Art. 4 der Richtlinie 2011/95/EU zu berücksichtigen. Der Zumutbarkeitsmaßstab nach § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG geht über das Fehlen einer im Rahmen der analogen Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beachtlichen existenziellen Notlage hinaus (BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 -, juris, Rn. 20). Ausschlaggebend kommt es auf die Würdigung der konkreten Gegebenheiten des Einzelfalls an (vgl. BayVGH, Beschluss vom 13. März 2014 - 13a ZB 14.30043 -, juris, Rn. 7).

Im vorliegenden Fall steht zur Überzeugung des Gerichts auch fest, dass für den Kläger eine inländische Fluchtalternative in der Russischen Föderation nicht bestand und besteht. Der namentlich bekannte Kläger zu 1. wäre selbst bei einer Veränderung seines Wohnsitzes innerhalb der Russischen Föderation und einer Meldung an einem anderen Ort sofort anhand seiner Personalien identifizierbar gewesen und hätte wegen des Verfolgungsinteresses an seiner Person auch in anderen Landesteilen der Russischen Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erneute Verfolgungsmaßnahmen zu befürchten. Diese Einschätzung gilt zur Überzeugung des Gerichts gleichermaßen für den Fall eine Rückkehr in sein Heimatland, weil diese Gefährdungssituation auch bei einer Rückkehr uneingeschränkt fortbesteht und der Kläger mit erneutem Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen hat, denen er sich auch durch ein Ausweichen in anderen Landesteile der Russischen Föderation nicht entziehen könnte und damit eine inländische Fluchtalternative für ihn nicht bestand und auch aktuell nicht beseht. [...]