VG Leipzig

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Zitieren als:
VG Leipzig, Urteil vom 09.09.2019 - 7 K 3146/17.A - asyl.net: M28134
https://www.asyl.net/rsdb/M28134
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für einen bisexuellen Mann aus Tunesien:

1. Homosexuelle Handlungen sind in Tunesien verboten und werden mit mehrjährigen Haftstrafen bestraft. Auch Bisexuellen droht in Tunesien staatliche Verfolgung. Gegen Hassverbrechen durch nichtstaatliche Akteure bietet der Staat keinen Schutz.

2. Der Ehefrau eines bisexuellen Mannes, die sich gegenüber der Familie zu ihrem Ehemann bekennt und sich weigert, sich scheiden zu lassen und deswegen von ihrem Schwager mit dem Tod bedroht und von ihren Eltern eingesperrt und misshandelt wird, droht keine asylrelevante Verfolgung. Es fehlt an der Anknüpfung an einen Verfolgungsgrund.

3. Im Fall, dass ihr weiterhin Gewalt droht, muss sie sich darauf verweisen lassen, um staatlichen Schutz nachzusuchen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Tunesien, bisexuell, sexuelle Orientierung, nichtstaatliche Verfolgung, Flüchtlingsanerkennung, interner Schutz, Schutzfähigkeit, Schutzbereitschaft, ernsthafter Schaden, Verfolgungsgrund, soziale Gruppe,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 4, AsylG § 3d,
Auszüge:

[...]

In Anlehnung an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ist davon auszugehen, dass Homosexuelle eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG darstellen, soweit in dem Herkunftsland strafrechtliche Bestimmungen bestehen, die spezifisch Homosexuelle betreffen. Dabei stellt der bloße Umstand, dass homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt sind, als solcher noch keine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 3 AsylG dar. Dagegen ist eine Freiheitsstrafe, mit der homosexuelle Handlungen bedroht werden und die im Herkunftsland tatsächlich verhängt wird, als unverhältnismäßige und diskriminierende Bestrafung zu betrachten und damit als relevante Verfolgungshandlung anzusehen, die eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit begründet. Denn die sexuelle Ausrichtung des Betroffenen stellt ein Merkmal dar, das so bedeutsam für seine Identität ist, dass von dem Schutzsuchenden nicht erwartet werden kann, dass er seine Homosexualität in dem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden (vgl. EuGH, Urteil vom 07.11.2013 - C-199/12, C-200/12, C-201/12 -, juris Rn. 41 ff.).

Nach dieser Maßgabe ist davon auszugehen, dass dem Kläger aufgrund seiner (auch) ausgelebten Homosexualität in Tunesien eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung im eingangs dargestellten Sinn droht (vgl. so auch VG Dresden, Urteil vom 09.10.2018 - 12 K 1292/17.A -; VG Göttingen, Urteil vom 19.09.2018 - 3 A 382/16 -; VG Stuttgart, Urteil vom 21.03.2017 - A 5 K 3670/16 -; jeweils juris).

Gemäß Art. 230 des tunesischen Strafgesetzbuchs werden homosexuelle Handlungen mit Haftstrafen von bis zu drei Jahren belegt. Dies gilt sowohl für homosexuelle Handlungen zwischen Männern als auch für solche zwischen Frauen. De facto kommt es jedoch fast ausschließlich zu Verurteilungen homosexueller Männer. 2017 habe es etwa 70 Verurteilungen gegeben. 2018 seien mindestens 115 Personen im Zusammenhang mit ihrer (unterstellten) sexuellen Orientierung oder Geschlechteridentität festgenommen und davon etwa 38 später unter Art. 230 des tunesischen Strafgesetzbuchs angeklagt und verurteilt worden. Die Zivilgesellschaft berichtet von regelmäßigen Verurteilungen Betroffener, nicht nur wegen homosexueller Handlungen, sondern auch wegen Verstoßes gegen die "guten Sitten" oder ähnlicher Delikte. Dabei nimmt eine strafrechtliche Verfolgung wegen Homosexualität ihren Ausgang in der Regel in Ermittlungen aus anderen Anlässen oder aufgrund gezielter Denunziationen durch das soziale Umfeld. Im Zuge der Ermittlungen ordnen die Strafverfolgungsbehörden häufig Untersuchungen im Analbereich an, um Männer der Homosexualität zu überführen. Diese werden von Kritikern als Verstoß gegen das Folterverbot gewertet und sollen daher laut Aussage des Ministers für die Beziehungen zu den Verfassungsorganen, der Zivilgesellschaft und Menschenrechtsorganisationen vor dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen 2017 gesetzlich unterbunden werden. Die vom Präsidenten der Republik eingesetzte Expertenkommission für Gleichheit und individuelle Freiheiten hat 2018 abgestufte Empfehlungen zur Entkriminalisierung homosexueller Handlungen erarbeitet, wobei zumindest eine Abschaffung der Haftstrafe bei Beibehaltung von Geldstrafen empfohlen wurde, sofern eine Straffreiheit politisch nicht durchsetzbar sei. Zwar wird im parlamentarischen Raum über eine entsprechende Gesetzesinitiative beraten, sie gilt jedoch bisher nicht als mehrheitsfähig. Aufgrund dieser nach wie vor schwierigen Situation wagen es nur wenige Betroffene, den Schutz von Behörden zu suchen, wenn sie selbst Opfer eines Verbrechens werden. Dabei deuteten Einzelberichte darauf hin, dass LGBTI-Personen mit zunehmender Diskriminierung und Gewalt konfrontiert waren (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien, 02.03.2019, S. 13; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Informationszentrum Asyl und Migration, Länderreport 4, Tunesien, November 2018, S. 3 f.; Amnesty International, Human Rights in the Middle East and North Africa: Review of 2018, 26.02.2019, S. 3). [...]

Die Klägerin zu 2 hat vorgebracht, bei einer Rückkehr nach Tunesien befürchte sie die Drohungen des Bruders des Klägers zu 1, der herausgefunden habe, dass ihr Ehemann bisexuell sei. Insbesondere sorge sie sich um das Leben ihres Mannes. Zudem habe sie Angst, dass man ihr die Kinder wegnehme, weil sie die Bisexualität ihres Mannes dulde. Dieses Vorbringen enthält keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass auch die Kläger zu 2 bis 4 bei einer Rückkehr nach Tunesien persönlich in Anknüpfung an die flüchtlingsrechtlich relevanten Merkmale der Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe Verfolgung zu gegenwärtigen hätten. So ist bereits nicht vorgetragen, dass auch die Kläger zu 2 bis 4 etwaige Obergriffe durch den Bruder des Klägers zu 1 zu befürchten hätten. Hierbei handelt es sich zudem um privatrechtliche Auseinandersetzungen beziehungsweise entsprechendes kriminelles Verhalten eines Privaten zum Nachteil der Klägerin zu 2, ohne dass eine Anknüpfung an die vorbenannten flüchtlingsrechtlich relevanten Merkmale erkennbar wäre. Gegenteiliges hat auch die Klägerin zu 2 nicht vorgetragen. Vielmehr hat sie als Grund der Drohungen durch den Bruder des Klägers zu 1 die Bisexualität ihres Ehemannes angegeben.

2. Die Kläger zu 2 bis 4 haben auch keinen Anspruch auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 60 Abs. 2 Satz 1 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 AsylG, da keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür feststellbar ist, dass ihnen bei einer Rückkehr nach Tunesien ein ernsthafter Schaden droht.

Nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG gilt als ernsthafter Schaden die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Diese Voraussetzungen sind vorliegend angesichts der aktuellen Erkenntnislage zu Tunesien nicht erfüllt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Tunesischen Republik, 02.03.2019, S. 8 f., 17 f.) und ergeben sich insbesondere nicht aus der Angst der Klägerin zu 2 vor dem Bruder des Klägers zu 1, der sie wegen der Bisexualität ihres Ehemannes bedrohe. Es ist vorliegend nicht davon auszugehen, dass der Klägerin zu 2 beziehungsweise ihren Kindern im Falle einer Rückkehr nach Tunesien ein ernsthafter Schaden im vorbenannten Sinne droht. Bei den vorgebrachten Bedrohungen durch den Bruder ihres Ehemannes handelt es sich allenfalls um gegebenenfalls strafrechtlich relevantes Verhalten eines privaten Dritten zum Nachteil der Kläger zu 2 bis 4. Dieses ist jedoch im Rahmen des § 4 Abs. 1 AsylG unbeachtlich, da die Kläger zu 2 bis 4 im Falle von kriminellen Übergriffen Privater in erster Linie gehalten sind, Schutz durch die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte des Heimatlandes zu suchen. Nach § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3d Abs. 2 Satz 2 AsylG ist generell Schutz vor von Dritten ausgehenden Gefahren eines ernsthaften Schadens gewährleistet, wenn der Staat geeignete Schritte einleitet, um die Gefahr eines ernsthaften Schadens zu verhindern, insbesondere durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, welche die Gefahr eines ernsthaften Schadens begründen und wenn die Kläger zu 2 bis 4 Zugang zu diesen nationalen Schutzsystemen haben (vgl. Marx, Asylgesetz, 9. Auflage 2017, § 3d Rn. 27). Das ist in Tunesien gegeben. Die Sicherheitsbehörden sind im gesamten Land vertreten (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Tunesischen Republik, 02.03.2019, S. 7 f., 11 f.). Das Vorbringen der Klägerin zu 2, sie hätten sich wegen der Drohungen durch den Bruder des Klägers zu 1 nicht an die Polizei wenden können, weil wegen der dann offenbarten Bisexualität und ausgelebten homosexuellen Neigungen ihres Ehemannes diesem die Verhaftung und strafrechtliche Verfolgung gedroht hätte, greift jedenfalls für den Fall einer Rückkehr der Kläger zu 2 bis 4 in ihr Heimatland nicht, weil dem Kläger zu 1 nach den Ausführungen unter 1.a. die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist, weshalb von seinem Verbleib in Deutschland auszugehen ist. Unter diesen Gegebenheiten bestünde jedoch für die Kläger zu 2 bis 4 die zumutbare Möglichkeit, bei den Strafverfolgungsbehörden ihres Heimatlandes um Schutz zu ersuchen, wenn solcher notwendig wird. Gleiches würde für den von der Klägerin zu 2 befürchteten Versuch ihrer Eltern gelten, ihr das Sorgerecht für die Kläger zu 3 und 4 zu entziehen, weil sie sich nicht von ihrem bisexuellen Ehemann trenne. Es ergeben sich vorliegend auch keine Anhaltspunkte dafür, dass ihr von den tunesischen Sicherheits- und Justizbehörden entsprechender Schutz verweigert werden würde (vgl. Auswärtiges Amt, Berichte über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Tunesischen Republik, 02.03.2019, S. 7 ff., 11 ff.). Dabei ist unter Berücksichtigung der zur Verfügung stehenden Erkenntnislage insbesondere auch nicht davon auszugehen, dass es der Klägerin zu 2 als Frau in ihrem Heimatland nicht möglich wäre, ihre Rechte angemessen durchzusetzen. Frauen und Männer sind seit der Unabhängigkeit Tunesiens mit der Einführung des fortschrittlichen Personenstandsgesetzes von 1957 rechtlich weitgehend gleichgestellt. Eine Ausnahme stellen das Erbrecht und der unzureichende Schutz vor sexueller Gewalt dar. Artikel 46 der tunesischen Verfassung vom 26.01.2014 garantiert den Schutz der Rechte der Frauen und verpflichtet den Staat zu deren weiterer Entwicklung. Der Staat garantiert die Chancengleichheit zwischen Mann und Frau und wirkt auf die paritätische Vertretung von Frauen und Männern in gewählten Körperschaften sowie allgemein die Stärkung und den Ausbau der Frauenrechte hin. Ein 2018 in Kraft getretenes Gesetz zur Verhütung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen verpflichtet den Staat zu umfangreichen Maßnahmen in den Bereichen Prävention, Schutz und Nachsorge für die Opfer sowie Bestrafung der Täter (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Tunesischen Republik, 02.03.2019, S. 12 f.). Das Gesetz erkennt körperliche, moralische und sexuelle Gewalt gleichermaßen an und will Opfern juristische und psychologische Hilfe ermöglichen (vgl. Süddeutsche Zeitung, Vergewaltigung In der Ehe ist in Tunesien nun strafbar, 31.07.2017, abrufbar unter: www.sueddeutsche.de/politik/frauenrechte-vergewaltigung-in-der-ehe-ist-in-tunesien-nun-strafbar-1.3611000 - zuletzt abgerufen am: 04.06.2019). Frauen können die Scheidung einreichen und Unterhaltsansprüche gerichtlich geltend machen. Die Stimme einer Frau als Zeugin in einem Gerichtsverfahren hat dasselbe Gewicht wie die eines Mannes (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Tunesischen Republik, 02.03.2019, S. 12 f.). Mithin lassen sich keine konkreten Anhaltspunkte dafür feststellen, dass es der Klägerin zu 2 als Frau in Tunesien von vornherein nicht möglich wäre, ihre Rechte betreffend etwaiger Übergriffe oder Bedrohungen durch den Bruder ihres Ehemannes beziehungsweise ihrer Familie unter Inanspruchnahme inländischer Rechtsschutzmöglichkeiten angemessen durchzusetzen; dies insbesondere vor dem Hintergrund der durch den tunesischen Staat vor allem in den letzten Jahren vorangetriebenen Stärkung und Ausweitung der Rechte der Frauen, insbesondere hinsichtlich des Schutzes vor Gewalt. [...]