BVerfG

Merkliste
Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 29.01.2020 - 2 BvR 690/19 - asyl.net: M28148
https://www.asyl.net/rsdb/M28148
Leitsatz:

Zum Maßstab der Prüfung des Rechts auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 EMRK bei sogenannten "faktischen Inländer*innen":

1. Zur Herleitung eines Aufenthaltsrechts aus Art. 8 Abs. 1 EMRK ist ein durch persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen charakterisiertes Privatleben erforderlich, das nur noch im Bundesgebiet geführt werden kann. Hierfür kommt es einerseits auf die Integration der Betroffenen in Deutschland, andererseits die Möglichkeit zur (Re-)Integration im Staat der Staatsangehörigkeit an.

2. Zur Wahrung des Rechts auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 EMRK kann es geboten sein, von einem atypischen Fall auszugehen und trotz fehlender Regelerteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 AufenthG einen Aufenthaltstitel zu erteilen. Für die Prüfung ist eine gewichtenden Gesamtbetrachtung der Lebensumstände der betroffenen Person vorzunehmen.

3. Bleiben hierfür wesentliche Gesichtspunkte im einstweiligen Rechtsschutzverfahren durch das Gericht unberücksichtigt, so ist die Garantie eines umfassenden und effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG verletzt.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Entwurzelung, Verwurzelung, faktischer Inländer, Straftat, Integration, Ausweisungsinteresse, Sicherung des Lebensunterhalts, Mitwirkungspflicht, Passbeschaffung, Achtung des Familienlebens, Bleibeinteresse, Libanon, vorläufiger Rechtsschutz, Rechtsweggarantie,
Normen: GG Art. 19 Abs. 4, EMRK Art. 8, AufenthG § 5 Abs. 1, AufenthG § 25 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

17 2. Die angegriffene Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts im einstweiligen Rechtsschutzverfahren wird diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen auch dann nicht gerecht, wenn man hier den in § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG normierten grundsätzlichen Vorrang des Vollziehungsinteresses in Rechnung stellt und daraus folgert, dass die Gerichte – neben der Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache – zu einer Einzelfallbetrachtung grundsätzlich nur im Hinblick auf solche Umstände angehalten sind, die von den Beteiligten vorgetragen werden und die Annahme rechtfertigen können, dass im konkreten Fall von der gesetzgeberischen Grundentscheidung ausnahmsweise abzuweichen ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 10. Oktober 2003 - 1 BvR 2025/03 -). Ausgehend von der Erkenntnis, dass der Fall womöglich im Hauptsacheverfahren zu klärende Sach- und Rechtsfragen aufwirft und deshalb die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht von den Erfolgsaussichten in der Hauptsache abhängig gemacht werden kann, hätte sich das Oberverwaltungsgericht mit den substantiiert vorgetragenen persönlichen Belangen der Beschwerdeführerin in einer der Bedeutung dieser Umstände für die Aussetzungsentscheidung angemessenen Weise auseinandersetzen müssen. Daran fehlt es hier. [...]

18 Der Klärung im Hauptsacheverfahren vorbehalten sein dürfte im vorliegenden Fall vor allem die Frage, ob die Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis durch den Bescheid der Ausländerbehörde vor dem Recht auf Achtung des Privatlebens, das Art. 8 Abs. 1 EMRK neben dem Recht auf Achtung des Familienlebens schützt, Bestand haben kann. Diese Frage konnte mit der vom Oberverwaltungsgericht gegebenen Begründung nicht im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes entschieden werden. [...] Bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung selbst hat das Gericht aber wesentliche Gesichtspunkte, insbesondere eine hinreichende Auseinandersetzung mit den zu erwartenden Lebensverhältnissen der Beschwerdeführerin im Libanon, unberücksichtigt gelassen. [...]

20 b) Hieran gemessen mangelt es der angegriffenen Entscheidung bereits an der richtigen Maßstabsbildung. Die Vorschrift des Art. 8 EMRK wird lediglich erwähnt, ohne deren Inhalt, insbesondere auch hinsichtlich der Anforderungen an den Begriff des "faktischen Inländers", unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sowie des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte näher zu erläutern. Zur Herleitung eines Aufenthaltsrechts aus Art. 8 Abs. 1 EMRK ist ein durch persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen charakterisiertes Privatleben erforderlich, das nur noch im Bundesgebiet geführt werden kann. Hierfür kommt es einerseits auf die Integration des Ausländers in Deutschland, andererseits die Möglichkeit zur (Re-)Integration im Staat der Staatsangehörigkeit an. Die konkrete Würdigung der von der Beschwerdeführerin vorgetragenen Umstände zur Verwurzelung in Deutschland und der Entwurzelung hinsichtlich des Libanon wird dem auf die Erfassung der individuellen Lebensverhältnisse des Ausländers angelegten Prüfprogramm (vgl. BVerfGK 12, 37 <44>; BVerwGE 133, 72 <82 ff.>) nicht gerecht.

21 Die angegriffene Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts nimmt keine gewichtende Gesamtbewertung der Lebensumstände der Beschwerdeführerin vor (vgl. BVerwGE 133, 72 <84>). Zudem ist das Oberverwaltungsgericht im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK dem Fehlen tatsächlicher Verbindungen der Beschwerdeführerin zum Libanon nicht nachgegangen, obwohl sich in Ansehung der Lebensgeschichte der Beschwerdeführerin die Notwendigkeit aufdrängt, dass die vorgetragene Entwurzelung in hohem Maße entscheidungserheblich und deshalb aufzuklären ist. Eine Abschiebung in diesen Staat hält das Oberverwaltungsgericht vielmehr für zumutbar, ohne das mögliche Fehlen einer Integrationsfähigkeit sowie die Frage zu klären, ob sie im Libanon als alleinstehende Frau auf Unterstützung durch Familie oder Dritte zählen kann. Mit den Voraussetzungen für eine Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG hat sich das Oberverwaltungsgericht ebenfalls nicht beschäftigt. [...]