VG Dresden

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Zitieren als:
VG Dresden, Urteil vom 23.04.2019 - 12 K 2990/16.A - asyl.net: M28357
https://www.asyl.net/rsdb/M28357
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz für einen libyschen Staatsangehörigen aus Bengasi:

1. In Libyen herrscht ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. Jedoch ist für die allgemeine Bevölkerung nicht die vom Bundesverwaltungsgericht geforderte Gefahrendichte erreicht.

2. Treten individuelle gefahrerhöhende Umstände hinzu (hier Entführung durch Milizen von General Haftar), kann sich diese allgemeine Gefahrenlage zu einer ernsthaften individuellen Bedrohung im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AsylG verdichten.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Libyen, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, ernsthafter Schaden, Haftar, Khalifa Haftar, subsidiärer Schutz, willkürliche Gewalt,
Normen: AsylG § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 3
Auszüge:

[...]

Ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt ist hier nach beiden Begriffen zu bejahen. Davon ist aufgrund der bereits seit mehreren Jahren in Libyen vorherrschenden Situation auszugehen.

Nach dem Sturz Gaddafis und der Befreiung ganz Libyens am 23. Oktober 2011 entstand in Libyen ein Machtvakuum, das die Ausbreitung von Milizen und bewaffneten Gruppen ermöglichte, die brutal um Gebiete und Öl kämpften. Bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Konfliktparteien innerhalb Libyens verschärften dabei seit 2014 die Lage. Weite Teile des Landes standen nach dem Sturz Muammar al Gaddafis unter Kontrolle bewaffneter Gruppierungen mit Milizcharakter, die im Zuge des Aufstandes entstanden sind. Die Gewalteskalation kulminierte, als das House of Representatives (HoR) im August 2014 von Tripolis in die östliche Stadt Tobruk vertrieben wurde, während das selbst ernannte konkurrierende Parlament, der General National Congress (GNC), die Macht in Tripolis übernahm. Dadurch wurde das Land politisch gespalten. Beide Seiten bekämpften einander unter dem Banner der "Operation Dignity" im Osten bzw. "Operation Dawn" im Westen des Landes. Das im Juni 2014 gewählte Parlament (Rat der Volksvertreter) mit der Regierung Abdallah al-Thni zog sich im August 2014 unter dem Eindruck der Offensive westlibyscher Milizen in die ostlibyschen Städte Tobruk (Parlament) bzw. Beida (Regierung) zurück und integrierte die militärischen Kräfte, die sich ab Mai 2014 unter Führung von General Khalifa Haftar unter dem Namen "Würde" formiert hatten. Im Westen ließ die "Morgenröte" genannte militärische Allianz aus islamistischen Milizen und Revolutionären aus der wichtigen Hafenstadt Misrata den im Juni 2014 abgewählten Allgemeinen Volkskongress (GNC) wieder auferstehen und bildete eine Gegenregierung "der Nationalen Rettung".

Unter Vermittlung des Libyen-Sondergesandten des UN-Generalsekretärs sowie seinem Nachfolger fanden seit September 2014 kontinuierlich Verhandlungen zwischen den verschiedenen Streitparteien statt, um im Wege der Machtteilung die seit Juli 2014 eskalierenden Auseinandersetzungen zu beenden. Keine der beiden Regierungen konnte in der Folgezeit politisch oder militärisch großräumig effektive Macht ausüben. Libyen fragmentierte in zahlreiche Kampfzonen mit jeweils eigener Dynamik. Die unübersichtliche, politisch instabile Lage, die unklare Rechtslage, sowie die Tatsache, dass weite Teile des Landes durch bewaffnete autonome Gruppierungen mit Milizcharakter kontrolliert werden, nutzen terroristische Organisationen (IS, Al Qaida) aus, die beiden Regierungen zu bekämpfen und deren Gebiete, wie etwa die Städte Darna, Sirte, an-Nufalija, Sabrata und auch Bengasi unter ihre Kontrolle zu bringen.

Durch das von der UN-Mission UNSMIL (United Nations Support Mission for Libya) nach monatelangen Verhandlungen vermittelte Politische Abkommen vom 17. Dezember 2015 wurden die Staatsorgane neu bestimmt: Staatsoberhaupt ist ein neunköpfiger Präsidialrat unter Vorsitz von Fayez al-Sarraj, der zugleich Ministerpräsident ist. An der Gesetzgebung ist neben dem Parlament (Rat der Volksvertreter) auch ein Staatsrat beteiligt. Diese Institutionen sollen maximal zwei Jahre (bis Ende 2017) im Amt bleiben und dann durch eine Regierung, die auf Grundlage einer neuen Verfassung von einem neugewählten Parlament bestimmt wird, abgelöst werden. Die USA und führende europäische Staaten sicherten der Einheitsregierung ihre Unterstützung zu und gaben in einer gemeinsamen Stellungnahme bekannt, diese als einzige legitime Vertretung Libyens anzuerkennen (vgl. Auswärtiges Amt, Libyen, Innenpolitik, Stand: Juni 2017, veröffentlicht unter: www.auswaertigesamt. de/sid_D6ADFCB07C560F3093A59BC88843725C/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderin fos/Libyen/Innenpolitik_node.html; Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Libyen - vom 23. Januar 2017, S. 6 f.).

Am 25. Juli 2017 wurde in Paris erstmals ein Abkommen zwischen Ferraz Al-Serrai und Khalifa Haftar geschlossen. Dieses sieht einen politischen Dialog und baldmöglichst Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vor. Auf der Pariser Libyen-Konferenz im Mai 2018 haben sich Premierminister Sarraj, der Präsident des Repräsentantenhauses (HoR) Saleh, der Vorsitzende des Hohe Staatsrates Meshri sowie der Komandeur der LNA General Haftar auf einen Fahrplan geeinigt, der ein Verfassungsreferendum sowie abschließend die Abhaltung von Wahlen im Dezember 2018 vorsah (vgl. Ad-hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes vom 3. August 2018, S. 5). Da nunmehr die Anpassung des Politischen Abkommens vom 17. Dezember 2015 sowie der Wahlprozess als blockiert gelten, richtet sich die Aufmerksamkeit der Internationalen Gemeinschaft zunehmend auf die Ausrichtung der "Nationalen Konferenz", die der Sondergesandte des UN-Generalsekretärs Salameh für Anfang 2019 angekündigt hat. Die Nationale Konferenz soll Vertretern der libyschen Gesellschaft eine Plattform bieten, ihre Vorstellungen für die Überwindung des Übergangsprozesses zu formulieren und so die Blockade des politischen Prozesses aufzulösen. Internationale und libysche Partner haben Salamehs Pläne bei einer von Italien ausgerichteten Konferenz im November 2018 unter12 stützt, bei der zudem das Frühjahr 2019 als Zieldatum für den Abschluss des Wahlprozesses genannt wurde (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 12. Januar 2019, S. 5).

Die Sicherheitslage in Libyen ist volatil und eskalationsanfällig. Geschützt durch maßgebliche Teile des HoR, erhält General Haftar im Osten des Landes die ehemals international anerkannte Übergangsregierung in Beida mit quasi-staatlichen Parallelstrukturen aufrecht. Weder der Präsidialrat und die Einheitsregierung noch ihre Herausforderer üben effektive Kontrolle über die Vielzahl bewaffneter Gruppen in Libyen aus. Die Sicherheitsbehörden sind wie alle staatlichen Strukturen fragmentiert und nicht konsequent gesamtstaatlich kontrolliert. Fast überall in Libyen nehmen weitgehend eigenständig agierende bewaffnete Gruppen de facto Funktionen staatlicher Sicherheitsorgane wahr, ohne sich an Recht und Gesetz gebunden zu fühlen. Der IS kontrolliert seit seiner militärischen Niederlage in Sirte im Dezember 2016 kein geographisch geschlossenes Gebiet mehr, verfügt aber weiterhin über Rückzugsräume und die Fähigkeit, komplexe Anschläge auch gegen symbolträchtige Ziele in Tripolis durchzuführen. Im Mai 2018 hat der IS einen Anschlag auf den Sitz der Hohen Nationalen Wahlkommission (HNEC) verübt, bei dem 16 Menschen getötet wurden; im September 2018 starben bei einem IS-Anschlag auf das Hauptquartier der Nationalen Ölgesellschaft mindestens zwei Menschen. In Ostlibyen (insbesondere Benghasi und Derna) geht die LNA unter General Haftar gegen islamistische und dschihadistische Gruppen mit wenig Rücksicht auf die Zivilbevölkerung vor. Eine der letzten Hochburgen der Dschihadisten, Derna, ist seit Juni 2018 weitgehend unter Kontrolle der LNA (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 12. Januar 2019, S. 5 f.).

Der Konflikt hat verheerende Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung. Viele Menschen sahen sich gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Zwar ist aktuell ein Rückgang der Anzahl der Binnenflüchtlinge von 303.000 im Februar 2017 auf 240.000 im August 2017 und ca. 190.000 im November 2018 zu verzeichnen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 12. Januar 2019, S. 13). Die Zahl der in ihre Heimatstädte zurückgekehrten Binnenflüchtlinge ist deutlich angestiegen; so sollen ca. 250.000 Binnenflüchtlinge insbesondere nach Bengasi, Sirte und Ubari zurückgekehrt sein (UN Security Council, Report of the Secretary-General on the United Nations Support Mission in Libya, 22. August 2017, S. 11; Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 12. Februar 2018, S. 13). Jedoch sind immer noch viele Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Im Oktober 2016 schätzte das UN-Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (UNOCHA), dass in ganz Libyen 1,3 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen seien (vgl. UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 6). Zum Ende des Jahres 2017 wird von einem leichten Rückgang auf 1,1 Millionen (vgl. UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 4) und im Oktober 2018 auf 820.000 auf humanitäre Hilfe angewiesenen Menschen berichtet (vgl. UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2019, Oktober 2018, S. 5 ff., abrufbar unter: www.humanitarianresponse.info/fr/operations/libya/document/2019-libya-humanitarian-needs-overview-hno).

Trotz der politischen Bemühungen zur Verbesserung der Lage in Libyen wird weiterhin von häufig wahllos auch auf Zivilisten mit unpräzisen Waffen wie Mörser- und Artilleriegranaten gefeuerten Angriffen durch bewaffnete Gruppen berichtet. Angriffe auf politische Gegner sind weit verbreitet, insbesondere auf Politiker, Menschenrechtsverteidiger, Journalisten, Juristen, religiöse Führer und (angebliche) ehemalige Anhänger Gaddafis. Gruppen, die sich zum IS bekennen, haben öffentlich Zivilisten ermordet, insbesondere in den Städten Sirte und Derna. In Derna flog die LNA im Jahr 2018 Luftangriffe auch auf dicht besiedelte Gebiete. Auch Kämpfe zwischen rivalisierenden bewaffneten Gruppen in Tripolis, al-Zawiya, Warshafana, den Nafusa-Bergen und anderen westlibyschen Städten sowie Stammeskämpfe im Süden des Landes betreffen die Zivilbevölkerung. Es kommt zu Plünderungen von und Angriffen auf Krankenhäuser, zuletzt am 15. November 2018 in Benghasi. Medizinisches Personal wird teils gezielt bedroht, angegriffen und willkürlich inhaftiert, insbesondere im Osten und Süden Libyens. Die Vereinten Nationen haben 2018 19 Angriffe auf medizinische Einrichtungen registriert, wobei 13 Angestellte und Patienten verletzt wurden. Auch zivile Infrastruktur wie beispielsweise Banken und Elektrizitätswerke wurden angegriffen. Weiterhin finden auch willkürliche Hinrichtungen statt (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 12. Januar 2019, S. 7).

Aufgrund dessen ist auch weiterhin aufgrund des Vorhandenseins verschiedener Regierungen sowie die fragile Situation ausnutzender terroristischer Elemente und der sich daraus ergebenden unübersichtlichen und unsicheren Lage vom Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikt auszugehen (ebenso: SächsOVG, Urt. v. 24. Oktober 2018 - 5 A 1150/17.A - Rn. 33 ff.; VG Chemnitz, Urt. v. 1. November 2018 - 7 K 3509/16.A - juris Rn. 22; VG Göttingen, Urt. v. 6. September 2018 - 3 A 503/16 - juris Rn. 19; VG Ansbach, Urt. v. 29. März 2018 - AN 10 K 16.32482 - juris Rn. 32; VG Potsdam, Urt. v. 20. September 2017 - 6 K 2854/17.A - juris Rn. 39; offen gelassen: VG Würzburg, Urt. v. 17. Januar 2018 - W 2 K 17.33587 - juris Rn. 40 und Urt. v. 13. September 2017 - W 2 K 17.32898 - juris Rn. 32; VG Chemnitz, Urt. v. 15. März 2018 - 7 K 2975/16.A - juris Rn. 72, und vom 11. Mai 2017 - 7 K 2874/16.A - juris Rn. 29; VG Berlin, Urt. v. 10. Juli 2017 - 34 K 197.16 A - juris Rn. 57).

b) Das Gericht ist aufgrund der Ausführungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung sowie der vorliegenden Erkenntnismittel davon überzeugt, dass für den Kläger bei einer Rückkehr mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit von einer ernsthaften individuelle Bedrohung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen dieses innerstaatlichen bewaffneten Konflikts auszugehen ist.

Eine ernsthafte individuelle Bedrohung für Leib oder Leben kann in erster Linie auf gefahrerhöhenden persönlichen Umständen beruhen. Dies sind solche Umstände, die den Ausländer von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen als andere, etwa weil er von Berufs wegen (z. B. als Arzt oder Journalist) gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Möglich sind aber auch solche persönlichen Umstände, aufgrund derer der Ausländer als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte - etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit - ausgesetzt ist, sofern deswegen nicht schon eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Betracht kommt (BVerwG, Urt. v. 27. April 2010 - 10 C 4.09 -, juris Rn. 33, und v. 17. November 2010 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 18). [...]

Gemessen an diesem Maßstab liegen in der Person des Klägers gefahrerhöhende Umstände vor, die dazu führen, dass auch das Vorliegen eines geringeren Niveaus willkürlicher Gewalt zur Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG genügt

Gesicherte Zahlen zu zivilen Opfern der Auseinandersetzungen in Libyen existieren nicht. Da es in Libyen derzeit keine Regierung gibt, die im ganzen Land über Verwaltungshoheit verfügt, gibt es auch keine offizielle Stelle, die Opferzahlen erfasst und veröffentlicht.

Durch die Vereinten Nationen über die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Libyen (UNSMIL) werden seit 2016 monatlich Zahlen zu zivilen Opfern aufgrund des Konflikts in Libyen veröffentlicht (im Internet abrufbar unter: unsmil.unmissions.org/humanrights-report-civilian-casualties-0). Diese Zahlen basieren auf Informationen, die UNSMIL aus einer breiten Palette von Quellen (u.a. Menschenrechtsverteidiger, Meldungen aus der Zivilgesellschaft, aktuelle und ehemalige Beamte, Angestellte von Kommunalverwaltungen, Zeugen und Medienberichte) in Libyen, sammelt und im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten überprüft. Für ganz Libyen wurden danach im Jahr 2016 insgesamt 567 Opfer, davon 319 verletzte und 248 getötete zivile Personen, berichtet. Für 2017 ergibt sich hiernach eine Gesamtzahl ziviler Opfer von 337, davon 177 Verletzte und 160 Todesopfer, und für 2018 von 544 zivilen Opfern, davon 356 Verletzte und 188 Todesopfer. Bei einem Vergleich der Städte ergibt sich, dass die Stadt Bengasi mit insgesamt 296 zivilen Opfern im Jahr 2016 und 137 Opfern im Jahr 2017 die meisten Opfer zu beklagen hat. Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 268 zivile Opfer erfasst. Für die Hauptstadt Tripolis ergeben sich zum Vergleich für 2016 79 und für 2017 36 sowie für 2018 97 zivile Opfer.

Das Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research (ACCORD) stellt regelmäßig auf der Grundlage der Daten des Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED) für Libyen Konfliktvorfälle nach bestimmten Kategorien (z.B. Kämpfe, Fernangriffe, Gewalt gegen Zivilpersonen, etc.) und diesbezügliche Todesfälle zusammen (veröffentlicht im Internet unter: www.ecoi.net/). ACLED ist eine in den USA ansässige Nichtregierungsorganisation, die statistische Daten über gewaltsame politische Proteste und politisch motivierte Gewaltausbrüche in Afrika und Asien erhebt. Die Daten stammen aus einer Vielzahl von Quellen, darunter Berichte von Entwicklungsorganisationen und lokalen Medien, humanitäre Organisationen und Forschungspublikationen. Für das Jahr 2016 wurden hiernach in der Kategorie "Gewalt gegen Zivilpersonen" für ganz Libyen 113 Vorfälle mit 189 Todesfällen und für das Jahr 2017 155 Vorfälle mit 231 Todesfällen erfasst (vgl. ACCORD, Kurzübersicht für 2016 und 2017, veröffentlicht unter: www.ecoi.net/file_upload/5250_1486725701_2016ylibya-de.pdf - 2016 - und www.ecoi.net/en/file/local/1435859/1930_1529567502_2017ylibya-de.pdf - 2017 -). Für das 1. Halbjahr 2018 ergeben sich hiernach 28 Vorfälle mit 55 Todesfällen (ACCORD, Kurzübersicht für das 1. und 2. Quartal 2018, veröffentlicht unter: www.ecoi.net/en/file/local/1436588/1930_1530105345_2018q1libya-de.pdf - 1. Quartal - und www.ecoi.net/en/file/local/1442622/1930_1536217654_2018q2libya-de.pdf. - 2. Quartal -) und für das 3. Quartal 2018 10 Vorfälle mit 9 zivilen Todesopfern (veröffentlicht unter: www.ecoi.net/en/file/local/2002460/2018q3Libya_de.pdf). Allerdings werden in dieser Statistik nicht die Zahlen der verletzten Zivilpersonen erfasst. Soweit in den Übersichten von ACCORD auch die Verteilung der Vorfälle auf die Verwaltungseinheiten Libyens ausgewiesen wird, erfolgt hierbei keine Unterscheidung zwischen zivilen und militärischen Opfern, so dass die diesbezüglichen Zahlen zu einem großen Anteil auch die nicht zivilen Opfer enthalten (zum Vergleich: für 2016 werden für Libyen insgesamt 905 Vorfälle mit 2.870 Todesfällen - zivile und nicht zivile - ausgewiesen). Auch hiernach ist jedoch die Region Bengasi am stärksten betroffen, im Jahr 2016 mit 283 Vorfällen und 908 Todesopfern und im Jahr 2017 mit 260 Vorfällen und 638 Todesopfern im Vergleich zur Region Tripolis mit 160 Vorfällen und 130 Todesopfern im Jahr 2016 sowie 158 Vorfällen und 187 Todesopfer im Jahr 2017.

Auch wenn sich die genannten Zahlen voneinander unterscheiden, vermitteln sie doch einen Eindruck über die ungefähre Größenordnung hinsichtlich der zivilen Opfer in Libyen. Diesen Zahlen steht eine Gesamteinwohnerzahl Libyens von rund 6,4 Millionen gegenüber (vgl. UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, S. 6). Unter Zugrundelegung der Zahlen von UNSMIL (nur diese weisen ausschließlich die zivilen Opfer und neben den getöteten auch die verletzten Zivilpersonen aus) ergibt sich für 2016 ein Risiko von 1 : 11.300, in Libyen im Laufe eines Jahres als Zivilperson verletzt oder getötet zu werden, und für 2017 ein Risiko von 1 : 19.000. Für das Jahr 2018 ergibt sich ein Risiko von ca. 1 : 11.700. Die genannten Zahlen sind zur Berücksichtigung nicht bekannt gewordener Vorfälle zwar weiter nach oben zu korrigieren. Selbst bei einer Vervielfachung der vorgenannten Ergebnisse zur Berücksichtigung möglicher nicht bekannt gewordener Vorfälle um mehr als das Doppelte ergäbe sich für Libyen insgesamt ein Risiko, das noch weit von dem vom Bundesverwaltungsgericht für unbedenklich gehaltenen Risiko von 1:800 bzw. 1:1.000 (vgl. BVerwG, Urt. v. 17. November 2011 - 10 C 13/10 - juris Rn. 22 und - 10 C 11.10 - juris Rn. 20) entfernt ist (vgl. SächsOVG, Urt. v. 25. Oktober 2018 - 5 A 1150/17.A - Rn. 47 ff.).

Speziell für die Stadt Bengasi, aus der der Kläger kommt und die ca. 650.000 Einwohner hat, ergeben sich nach den Zahlen von UNSMIL für 2016 296 (192 Verletzte und 104 Todesopfer) und für 2017 137 (84 Verletzte und 53 Todesopfer) zivile Opfer. Für das Jahr 2018 wurden 268 zivile Opfer erfasst, davon 206 Verletzte und 62 Tote. Daraus ergibt sich für Bengasi ein Risiko von 1 : 2.200 (Zahlen von 2016) bzw. 1 : 4.750 (Zahlen von 2017) und 1 : 2.450 (Zahlen von 2018), als Zivilperson verletzt oder getötet zu werden. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit eines dem Kläger in Bengasi drohenden Schadens im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG lässt sich nach dieser Risikoermittlung nicht begründen.

Im Ergebnis einer wertenden Betrachtung unter Berücksichtigung auch der Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung und der medizinischen Versorgungslage, der oben ermittelten Zahlen ziviler Opfer in Libyen und der im Falle des Klägers vorliegenden gefahrerhöhenden Umstände ist vorliegend von einer ernsthaften individuellen Bedrohung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG auszugehen. Auch wenn das festgestellte Risiko - je nach Zielgebiet - teilweise noch weit von dem vom Bundesverwaltungsgericht in anderer Sache für unbedenklich gehaltenen Risiko von 1 : 800 bzw. 1 : 1.000 (vgl. BVerwG, Urt. v. 17. November 2011 - 10 C 13/10 -, juris Rn. 22, und - 10 C 11.10 -, juris Rn. 20) entfernt ist, ergibt sich hier aufgrund des Vorliegens gefahrerhöhender Umstände ein Anspruch des Klägers auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes.

Das vom Kläger geschilderte Vorgehen durch Mitglieder der Miliz "Blutrache" im Oktober 2014 stellt für ihn einen gefahrerhöhenden Umstand dar. Die entgegenstehende Auffassung des Bundesamtes, das seine Entscheidung darauf stützt, der Kläger habe keine persönlichen Umstände vorgetragen, die die Gefahr für ihn so erhöhten, dass von individuellen konfliktbedingten Gefahren gesprochen werden könne, ist für das Gericht nicht nachvollziehbar. Die Umstände seiner Entführung an einem Kontrollpunkt in der Nähe von Bengasi, seine Inhaftierung und die erlittene Folter hat der Kläger glaubhaft geschildert. Seine Ausführungen waren - auch auf Nachfragen - widerspruchsfrei, detailreich und in sich schlüssig. Seine Reaktionen auf die Fragen des Gerichts ließen deutlich seine innere Bewegung bei dem Gedanken an die Ereignisse erkennen. Die Reaktionen waren spontan und die Schilderung der Ereignisse in sich stimmig und schlüssig. Im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung besteht durch den zwischenzeitlich ausgedehnten Einfluss von General Haftar und dem Vorrücken seiner Gruppen nach Westen zudem eine Situation, in der die konfliktbedingten Gefahren für den Kläger erst recht bestehen. [...]