VG Augsburg

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Zitieren als:
VG Augsburg, Urteil vom 10.05.2019 - Au 2 K 19.30587 - asyl.net: M28372
https://www.asyl.net/rsdb/M28372
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für eine Zeugin Jehovas wegen drohender Verfolgung in der Russischen Föderation:

1. Mitgliedern der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas droht auch ohne asylrelevante Vorverfolgung in der Russischen Föderation bei Rückkehr Verfolgung aufgrund der Religion.

2.  Eine interne Schutzmöglichkeit gibt es nicht, da die Verfolgung landesweit droht.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Russische Föderation, Zeugen Jehovas, religiöse Verfolgung, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

39 (1) Die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Angehörige der Zeugen Jehovas in der russischen Föderation der Verfolgung unterliegen, ist bislang nicht obergerichtlich geklärt. Die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte ist uneinheitlich. Das Verwaltungsgericht Hamburg (VG Hamburg, U.v. 27.6.2018 - 17 A 2777/18 - juris Rn. 24 - rechtskräftig) und im Anschluss daran das Verwaltungsgericht Sigmaringen (U.v. 17.1.2019 - A 4 K 6178/16 - juris Rn. 30 ff. - nicht rechtskräftig) gehen davon aus, dass Zeugen Jehovas, die ihren Glauben aktiv ausüben, in Russland strafrechtlicher Verfolgung unterliegen (vgl. im Ergebnis auch VG Stuttgart, U.v. 15.3.2019 - A 14 K 16637/17 - unveröffentlicht, nicht rechtskräftig und zuvor schon VG Göttingen, U.v. 5.10.2017 - 2 A 197/14 - unveröffentlicht). Das Verwaltungsgericht Trier (U.v. 13.11.2018 - 1 K 318/18.TR - juris Rn. 26 ff.) verneint eine Verfolgung allein aufgrund der Zugehörigkeit zu den Zeugen Jehovas, kommt im entschiedenen Einzelfall insbesondere aufgrund der Stellung des dortigen Klägers als Ältester aber gleichwohl zur beachtlichen Wahrscheinlich eine Verfolgung. Schließlich hat das Verwaltungsgericht Münster eine Verfolgung angenommen, - soweit ersichtlich - ohne eine Prüfung der Umstände des Einzelfalls vorzunehmen (Gerichtsbescheid vom 22. Februar 2018 - 2 K 1079/17.A - juris).

40 (2) Nach Auswertung der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel kommt das Gericht zu der Überzeugung, dass Zeugen Jehovas in der Russischen Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, wenn sie eine herausgehobene Stellung innerhalb der Gemeinschaft haben oder ihren Glauben öffentlich oder in Gemeinschaft mit anderen ausüben. Dagegen gibt es keine Hinweise dafür, dass Angehörige der Religionsgemeinschaft, die weder eine herausgehobene Stellung haben noch ihren Glauben in der dargestellten Form ausüben, mit Verfolgung zu rechnen haben.

41 (a) Zunächst lassen die Erkenntnismittel den Schluss zu, dass die Angehörigen der Zeugen Jehovas, die sich auch nur niederschwellig an den Aktivitäten ihrer Glaubensgemeinschaft beteiligen, strafrechtlich belangt werden können.

42 So führt das Auswärtige Amt im aktuellen Lagebericht vom 13. Februar 2019 (S. 7) aus: "Am 20. April 2017 billigte das Oberste Gericht Russlands einen Antrag des Justizministeriums, in dem die russische Zentrale der Zeugen Jehovas als extremistische Gruppe eingestuft wurde, die die Bürgerrechte sowie die öffentliche Ordnung und Sicherheit bedrohe. Von dem Verbot sind alle 395 Regionalverbände des Landes betroffen. Ihr Besitz wurde beschlagnahmt. Die Zeugen Jehovas können somit für die Ausübung ihres Glaubens strafrechtlich verfolgt werden." Rechtsgrundlage für eine strafrechtliche Verurteilung ist dabei Art. 282.2 des russischen Strafgesetzbuches, dessen Wortlaut (auszugsweise) wie folgt lautet (zitiert nach BFA, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Russische Föderation, Zeugen Jehovas vom 2.3.2018, S 2 f.):

43 Art. 282.2 Organisation der Tätigkeit einer extremistischen Organisation

44 Z.1 Die Organisation der Tätigkeit ... einer religiösen Vereinigung, in Bezug auf die es eine rechtskräftige Gerichtsentscheidung über die Liquidierung oder ein Tätigkeitsverbot im Zusammenhang mit der Verwirklichung extremistischer Tätigkeit gibt - mit Ausnahme von Organisationen, die gemäß der russischen Gesetzgebung als terroristisch erkannt wurden -, wird mit einer Geldstrafe in Höhe von 400.000 bis 800.000 Rubel bestraft oder in der Höhe des Arbeits- oder eines anderen Einkommens des Verurteilten für einen Zeitraum von 2 bis 4 Jahren oder mit Freiheitsstrafe von 6 bis 10 Jahren mit dem Entzug des Rechts, bestimmte Positionen einzunehmen oder bestimmte Tätigkeiten auszuüben mit einer Frist bis zu 10 Jahren und mit Beschränkungen der Freiheit mit einer Frist von 1 bis 2 Jahren.

45 Z. 1.1. Die Zuführung, Anwerbung oder Einbeziehung einer Person zur Tätigkeit einer extremistischen Organisation mit einer Geldstrafe in Höhe von 300.000 bis 700.000 Rubel bestraft oder in der Höhe des Arbeits- oder eines anderen Einkommens des Verurteilten für einen Zeitraum von 2 bis 4 Jahren oder mit Zwangsarbeit für einen Zeitraum von 2 bis 5 Jahren mit dem Entzug des Rechts, bestimmte Positionen einzunehmen oder bestimmte Tätigkeiten auszuüben mit einer Frist bis zu 5 Jahren oder ohne einen solchen und mit Beschränkungen der Freiheit mit einer Frist von 1 bis 2 Jahren oder mit Freiheitsstrafe von 4 bis 8 Jahren mit Beschränkungen der Freiheit von 1 bis 2 Jahren.

46 Z. 2. Die Teilnahme an der Tätigkeit einer ... religiösen Gesellschaft in Bezug auf die es eine rechtskräftige Gerichtsentscheidung über die Liquidierung oder ein Tätigkeitsverbot im Zusammenhang mit der Verwirklichung extremistischer Tätigkeit gibt - mit Ausnahme von Organisationen, die gemäß der russischen Gesetzgebung als terroristisch erkannt wurden -, wird mit einer Geldstrafe in Höhe von 300.000 bis 600.000 Rubel bestraft oder in der Höhe des Arbeits- oder eines anderen Einkommens des Verurteilten für einen Zeitraum von 2 bis 3 Jahren oder mit Zwangsarbeit für einen Zeitraum von 1 bis 4 Jahren mit dem Entzug des Rechts, bestimmte Positionen einzunehmen oder bestimmte Tätigkeiten auszuüben mit einer Frist bis zu 3 Jahren oder ohne einen solchen und mit Beschränkungen der Freiheit mit einer Frist bis zu 1 Jahr oder mit Freiheitsstrafe von 2 bis 6 Jahren mit Beschränkungen der Freiheit von 1 bis 2 Jahren mit dem Entzug des Rechts, bestimmte Positionen einzunehmen oder bestimmte Tätigkeiten auszuüben mit einer Frist bis zu 5 Jahren und mit Beschränkungen der Freiheit mit einer Frist bis zu 1 Jahr.

47 Eine Person, die erstmals ein Verbrechen gemäß dieses Art. begangen und freiwillig die Teilnahme an der Tätigkeit dieser religiösen Gesellschaft, in Bezug auf die es eine rechtskräftige Gerichtsentscheidung über die Liquidierung oder ein Tätigkeitsverbot im Zusammenhang mit der Verwirklichung extremistischer Tätigkeit gibt, beendet hat, wird von der strafrechtlichen Verantwortung frei, wenn in seinen Handlungen kein anderer Straftatbestand enthalten ist."

48 Unter die "Teilnahme an der Tätigkeit einer religiösen Gesellschaft" lässt sich auch eine bloße gemeinschaftliche Religionsausübung ohne weiteres subsumieren. Gleiches gilt für eine werbende, missionarische Tätigkeit im Hinblick auf das Tatbestandsmerkmal des "Anwerbens". Ausgehend von den zahlreichen Berichten über die Ermittlungsverfahren gegen Zeugen Jehovas wegen des Verdachts eines Verstoßes gegen Art. 282.2 Strafgesetzbuch und einer Verurteilungen auf dessen Grundlage (dazu sogleich) ist davon auszugehen, dass die russischen Behörden die Norm auch tatsächlich umsetzen (vgl. zur Maßgeblichkeit der Rechtspraxis im Herkunftsstaat etwa BVerwG, U.v. 15.12.1992 - 9 C 61/91 - Rn. 11, juris). Besondere Beachtung fand insofern die Verurteilung eines dänischen Staatsangehörigen zu sechs Jahren Lagerhaft im Februar 2019 (vgl. UN News, UN rights chief 'deeply concerned' over Jehovah's Witness sentencing in Russia, abrufbar unter news.un.org/en/story/2019/02/1032151).https://news.un.org/en/story/2019/02/1032151).

49 (b) Im Hinblick auf die Anzahl der Zeugen Jehovas, die in Russland strafrechtlicher Verfolgung auf der Grundlage u.a. von Art. 282.2 Strafgesetzbuch ausgesetzt sind, geht das Gericht davon aus, dass einiges mehr als 100 Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden und ca. 100 der davon Betroffenen sich in Untersuchungshaft befinden, unter Hausarrest stehen oder sonstigen Freiheitsbeschränkungen (etwa in Form von Ausreiseoder Aufenthaltsbeschränkungen) unterliegen. Das Auswärtige Amt (Lagebericht vom 13. Februar 2019, S. 4, 7) geht von 85 Ermittlungsverfahren aus. 27 Zeugen Jehovas säßen in Untersuchungshaft, 17 befänden sich im Hausarrest und 31 weitere dürften ihren Wohnort nicht verlassen. Die Vereinten Nationen sprachen Anfang Februar 2019 von mehr als 100 Ermittlungsverfahren (vgl. UN News, UN rights chief deeply concerned over Jehovah's Witness sentencing in Russia, abrufbar unter news. un.org/en/story/2019/02/1032151). Die United States Commission on International Religious Freedom (USCIRF) geht für Ende 2018 von 121 Ermittlungsverfahren, 23 Inhaftierungen, 27 Hausarresten und 41 Aufenthaltsbeschränkungen aus (United States Commission on International Religious Freedom (USCIRF), Annual Report 2019, April 2019, S. 83). Diese Zahlen dürften sich angesichts weiterer Verhaftungen und Wohnungsdurchsuchungen in den letzten Wochen vor der mündlichen Verhandlung weiter erhöht haben. So wurden am 15. Februar 2019 in der Stadt Surgut 40 Mitglieder der Zeugen Jehovas verhaftet (Amnesty International, Russian Federation: Effectively investigate allegations of torture against and persecution of Jehovah's Witneesses vom 25. Februar 2019), gegen 19 Mitglieder der Zeugen Jehovas wurde Anklage wegen der Organisation einer extremistischen Vereinigung erhoben (BAMF, Biefing Notes vom 25. Februar 2019, S 6.). Die Zeugen Jehovas selbst (https://jw-russia.org/en/prisoners.html#arrested=) gehen davon aus, dass bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlungen am 6. Mai 2019 gegen (mindestens) 153 Zeugen Jehovas ermittelt wird und sich 90 davon in Haft befanden oder noch befinden.

50 (c) Über die Hintergründe der Ermittlungsverfahren und die jeweiligen Tatvorwürfe ist den Erkenntnismitteln vergleichsweise wenig zu entnehmen. Dies gilt insbesondere für die Frage, ob sich die Verfolgung - wie die Beklagte andeutet - lediglich gegen solche Personen richtet, die bei der Organisation der Religionsgemeinschaft eine herausgehobene Rolle spielen oder ob auch die "einfache" Religionsausübung verfolgt wird.

51 Der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 13. Februar 2019 (S. 4) formuliert insoweit (freilich ohne jede Begründung oder Erläuterung), die russischen Behörden gingen gezielt gegen Einzelpersonen und deren Religionsausübung vor, sofern diese öffentlich erfolge. Die Beklagte konnte auf ausdrückliche schriftliche Frage des Gerichts keine Erkenntnisse hinsichtlich einer Differenzierung der Strafverfolgungsbehörden aufgrund der Stellung innerhalb der Gemeinschaft nennen.

52 Allerdings enthalten die Erkenntnismittel zahlreiche Indizien, die darauf hindeuten, dass auch die einfache Religionsausübung in Russland tatsächlich strafrechtlich verfolgt wird. Ausgangspunkt ist dabei die Aussage des Obersten Gerichts der Russischen Föderation im Verbotsverfahren,
das "alle Angehörigen der Religionsgemeinschaft potentielle Täter" seien, weil ihre Aktivitäten die Stabilität des Schutzes vor Menschenrechtsverletzungen gefährdeten (BFA, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Russische Föderation, Verbot und Strafverfolgung von Zeugen Jehovas vom 26.9.2017). In diese Richtung deutet auch die im Parallelverfahren vorgelegte (und der Beklagten von dort bekannten) amtlich beglaubigte Übersetzung eines Schreibens der Staatsanwaltschaft ... an den Zeugen ... vom 2. Juli 2018 vor, wonach "die Organisation und Teilnahme einer an der Tätigkeit" einer durch Gerichtsbeschluss liquidierten Vereinigung oder die "Durchführung einer extremistischen Tätigkeit" nach § 282.2 des Strafgesetzbuches der russischen Föderation strafbar sei und die Zeugen Jehovas kein Recht hätten, ihren Glauben auszuüben, ihre Literatur zu benutzen und zu verbreiten und den minderjährigen Kindern die "Ansichten dieser Organisation" beizubringen. Soweit den Zeugen Jehovas mittlerweile auch die Verweigerung des Militärdienstes aus Gewissensgründen unmöglich gemacht (Auswärtiges Amt, Auskunft an das Verwaltungsgericht Augsburg vom 27.12.2017 im vorliegenden Verfahren; United States Commission on International Religious Freedom (USCIRF), Annual Report 2019, April 2019, S. 83) und mit einer Entscheidung des Plenums des Obersten Gerichts vom November 2017 jedenfalls der juristisch-theoretische Unterbau geschaffen wurde, um Zeugen Jehovas die elterliche Sorge zu entziehen, wenn sie ihre Kinder mit der Organisation der Zeugen Jehovas in Kontakt bringen (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 13. Februar 2019, S. 7), spricht auch dies dafür, dass es den Organen der Russschen Föderation nicht nur um die Zerschlagung der Organisation der Zeugen Jehovas als solcher, sondern auch um die Sanktionierung von individuellen glaubensgeleiteten Verhaltensweisen geht.

53 Dass die strafrechtliche Verfolgung auch auf rein private religiöse Aktivität zielt, legen zudem einige der in den Erkenntnismitteln genannten Einzelfälle nahe. So wurde den fünf im Oktober 2018 im Oblast Kirows verhafteten Zeugen Jehovas der Versuch vorgeworfen, die Tätigkeit einer religiösen Organisation, die die Glaubenslehre der Zeugen Jehovas weiterverbreitet, wieder aufzunehmen (BAF, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Russische Föderation vom 31.8.2018, S. 7 f.). Trotz der Verbotsentscheidung des Obersten Gerichts vom 20. April 2017 hätten die Festgenommenen laut Untersuchungskomitee - in voller Kenntnis der Gerichtsentscheidung beschlossen, die religiöse Tätigkeit wieder aufzunehmen. Unter Beachtung konspirativen Maßnahmen hätten sie jedes Mal in neuen Wohnungen Treffen von Jüngern und Teilnehmern der religiösen Vereinigung organisiert. Dort hätten sie biblische Lieder gesungen, die Fertigkeiten bei der Durchführung der missionarischen Tätigkeit vervollkommnet und in der Extremismus-Liste aufgeführte verbotene Literatur studiert (New World Translation of the Holy Scriptures, Nr. 4488 der Liste). Außerdem hätten sie eine verbotene religiöse Organisation finanziert, indem sie ca. 500.000 RUB von den Glaubensanhängern gesammelt hätten. Dieses Geld sei zwischen den Führern der Organisation für die Miete der Räumlichkeiten, für den Erwerb und die Wartung von Computern aufgewendet worden. Der Rest der Summe sei dem Leitungszentrum überwiesen worden. Das BFA (a.a.O.) folgert daraus, Teilnahmen an gemeinschaftlichen Zusammenkünften bzw. Missionierungen oder öffentlichen Handlungen (der Zeugen Jehovas) würden von den russischen Behörden "weiterhin" verfolgt.

54 Auch, dass bei der bereits beschriebenen Aktion der Sicherheitsbehörden in Surgut auch Frauen und Minderjährige verhaftet wurden (Amnesty International, Russian Federation: Effectively investigate allegations of torture against and persecution of Jehovah's Witneesses vom 25. Februar 2019) und der Umstand, dass sich unter den 153 von den Zeugen Jehovas selbst als Verdächtigte gelisteten Personen auch 23 Frauen befinden, die nach dem Selbstverständnis der Zeugen Jehovas keine leitenden Funktionen wahrnehmen (vgl. www.jw.org/de/jehovas-zeugen/haeufig-gestellte-fragen/frauen-predigerinnen/), sprechen dafür, dass sich die Ermittlungsverfahren keineswegs nur auf solche Personen beschränken, die innerhalb der Organisation eine herausgehobene (Leitungs-) Funktion innehaben.

55 Auch der Umstand, dass bereits im Jahr 2015 in der Stadt Taganrog 16 Angehörige der Zeugen Jehovas, darunter auch eine Frau wegen "Teilnahme an Veranstaltungen einer" (damals noch nur regional) verbotenen "extremistischen Organisation" zu Bewährungs- oder hohen Geldstrafen verurteilt wurden (Auswärtiges Amt, Auskunft an das Verwaltungsgericht Regensburg vom 21. Dezember 2016; Amnesty International, Urgent Action - Zeugen Jehovas verurteilt vom 9. Dezember 2015), spricht für die Verfolgung der bloßen Religionsausübung.

56 Darauf, dass ein nicht unerheblicher Verfolgungsdruck hinsichtlich zentraler Elemente der (einfachen) Glaubensausübung wie das Missionieren ("Predigen") oder dem Besuch von Versammlungen besteht, deutet auch das vom Zeugen ... in einem Parallelverfahren glaubhaft geschilderte und in den Erkenntnismitteln ebenfalls erwähnte geänderte Verhalten der Angehörigen der Religionsgemeinschaft hin. So schilderte der Zeuge, religiöse Treffen fänden häufig nur noch getarnt als private (Essens-) Einladungen statt, bei denen auf das sonst bei Versammlungen übliche Tragen von feierlicher Kleidung verzichtet werde. Auch versuchten die "Prediger" mittlerweile, das Risiko einer Verhaftung beim Missionieren dadurch zu minimieren, dass man nur noch im Bekannten-, Verwandten- und Kollegenkreis, also nicht mehr bei Unbekannten tätig werde. Auch sei es nun üblich, unmittelbar nach einem Missionierungsversuch eine größere räumliche Distanz zur Wohnung des Angesprochenen herzustellen, falls dieser sich an die Polizei wende. Dies deckt sich mit der Einschätzung, dass sich Gläubige bei der Ausübung ihrer Religion nunmehr in die Verborgenheit zurückziehen (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Russische Föderation vom 31. August 2018).

57 (d) Die Beurteilung der Verfolgungswahrscheinlichkeit entzieht sich dabei einer rein quantitativen Ermittlung.

58 Die Beklagte errechnet ausgehend von einer Mitgliederzahl von rund 175.000 und 70 Ermittlungsverfahren eine Verfolgungswahrscheinlichkeit von 0,04 % (oder 1:2.500). Dies ist in der vorliegenden Konstellation nicht sachgerecht, jedenfalls nicht ausreichend.

59 Zum einen ist davon auszugehen, dass eine für die quantitative Bestimmung einer Verfolgungswahrscheinlichkeit nicht unerhebliche Zahl von Zeugen Jehovas mittlerweile die Russische Föderation verlassen hat (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 21.5.2018, S. 8). Ein Kläger in einem Parallelverfahren hat hierzu angegeben, nach Angaben der Zentralverwaltung der Zeugen Jehovas in der russischen Föderation liege die Zahl der Ausgereisten bei etwa 5.000. Angesichts der Angabe der Vertreterin des Beklagten in der mündlichen Verhandlung im dortigen Verfahren, allein in den Jahren 2018 und 2019 hätten in Deutschland 1.180 Zeugen Jehovas aus der Russischen Föderation Asyl beantragt, erscheint diese Einschätzung nicht zu hoch.

60 Zudem ließe eine rein quantitative Ermittlung der Verfolgungsgefahr anhand der eingeleiteten Ermittlungsverfahren diejenigen zu Unrecht außer Betracht, die aus Furcht vor Verfolgung auf eine verfolgungsträchtige Religionsausübung verzichten. Diese Dunkelziffer lässt sich dabei sinnvoll nicht ermitteln, angesichts der dargestellten Lage der Zeugen Jehovas, erscheint es allerdings geradezu naheliegend, dass eine nicht unerhebliche Zahl der Angehörigen der Religionsgemeinschaft bestimmte Formen der Religionsausübung, namentlich öffentliche und gemeinschaftliche Formen, (nur) aus Furcht vor Verfolgung unterlässt.

61 Eine rechnerische Ermittlung des Verfolgungsrisikos könnte schließlich nur dann sinnvoll erfolgen, wenn sich die Zahl der Zeugen Jehovas, die ihre Religion vom Staat geduldet oder toleriert öffentlich oder gemeinschaftlich ausüben, bestimmen ließe. Nur die Relation der Anzahl strafrechtlicher Sanktionen einerseits und vom russischen Staat tolerierten formell strafbaren Verhaltensweisen andererseits könnte Aufschluss über die Verfolgungswahrscheinlichkeit geben. Der Vergleich der Anzahl der Sanktionen (Ermittlungsverfahren, Verhaftungen, Verurteilungen etc.) und Mitgliedern der Zeugen Jehovas stellt insofern einen nur begrenzt tauglichen Maßstab dar.

62 Dies vorangestellt scheidet eine rein quantitative Ermittlung der Verfolgungswahrscheinlichkeit schon deswegen aus, weil sich den Erkenntnismitteln keine verlässlichen Hinweise darauf entnehmen lassen, dass die russischen Strafverfolgungsbehörden eine an sich von Art. 282.2 Strafgesetzbuch erfasste Religionsausübung geduldet hätten. Auch der Beklagte war auf ausdrückliche Anfrage des Gerichts nicht in der Lage, entsprechende Fälle zu benennen.

63 Angesichts dessen kann die Gefahr der Strafverfolgung von Zeugen Jehovas in der Russischen Föderation nur anhand der von der Rechtsprechung entwickelten "qualifizierenden" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung. Es kommt - wie dargestellt - darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 - juris Rn. 32).

64 (e) Unter Anlegung dieses qualifizierenden Maßstabes ist unter Beachtung des aktuellen Ausweichverhaltens der Zeugen Jehovas in Russland und der großen Zahl ausgereister Zeugen Jehovas sowie mit Rücksicht auf die gesetzlichen Rahmenbedingungen, die systematischen Verbotsverfahren und die dargestellten Ermittlungsverfahren bzw. Verurteilungen Einzelner eine strafrechtliche Verfolgung von Zeugen Jehovas, die eine herausgehobene Stellung innerhalb der Gemeinschaft einnehmen oder ihren Glauben öffentlich oder in Gemeinschaft mit anderen ausüben, beachtlich wahrscheinlich.

65 Das Gericht hat allerdings in den Erkenntnismitteln keinen Hinweis darauf gefunden, dass auch Zeugen Jehovas, die nicht an gemeinschaftlichen Zusammenkünften bzw. Missionierungen oder öffentlichen Handlungen teilnehmen, von legalen Repressionen betroffen wären (so ausdrücklich auch BAF, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Russische Föderation vom 31.8.2018, S. 8). Soweit dies den Erkenntnismitteln zu entnehmen ist, knüpften strafrechtliche Ermittlungen und Verurteilung - wenn nicht an eine organisatorische Tätigkeit - immer an den Vorwurf einer öffentlichen oder gemeinschaftlichen Religionsausübung im Weitesten Sinne an. Die bloße Zugehörigkeit zu den Zeugen Jehovas begründet demnach - ungeachtet der Frage, wie sich eine solche bei einem weitgehenden Verzicht auf die religiöse Betätigung und der Auflösung der Organisationsstrukturen den Zeugen Jehovas bestimmen ließe - keine beachtliche Verfolgungsgefahr.

66 (f) Der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung können sich betroffene Zeugen Jehovas nicht durch ein Ausweichen in bestimmte Regionen der Russischen Föderation entziehen. Eine inländische Fluchtalternative im Sinne von § 3e AsylG steht ihnen nicht zur Verfügung. Alle 395 Regionalverbände der Zeugen Jehovas wurden verboten (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 13. Februar 2019, S. 7). Die strafrechtlichen Bestimmungen gelten landesweit. Verfolgungsmaßnahmen fanden in den letzten beiden Jahren - wie dargestellt - vom westrussischen Belgorod bis ins zentralsibirische Surgut statt. Auch die Beklagte konnte auf ausdrückliche Anfrage des Gerichts keine regionalen Unterschiede aufzeigen.

67 (g) Das Gericht ist schließlich der Überzeugung, dass es sich bei den dargestellten Verfolgungsmaßnahmen um Verfolgung aus Gründen der Religion und nicht etwa bloße Strafverfolgung zum Schutze allgemeiner individueller oder kollektiver Rechtsgüter handelt.

68 Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts steht für die Abgrenzung des kriminellen vom politischen Charakter einer Bestrafung stets der Zweck der Strafe im Vordergrund. Steht hinter staatlichen Maßnahmen das Ziel, den Verfolgten allein oder doch jedenfalls auch aus politischen (religiösen) Gründen zu treffen, so ist eine politische Verfolgung auch dann gegeben, wenn sie der äußeren Form nach in das Gewand einer polizeilichen oder strafrechtlichen Maßnahme gekleidet ist (BVerwG, U.v. 17.5.1983 - 9 C 874/82 - , BVerwGE 67, 195 Rn. 21). Dabei sind die Formulierung der Tatbestände für sich genommen ebenso wenig ausschlaggebend wie ihre Interpretation nach den für unsere Rechtsordnung hergebrachten Auslegungsmethoden. Bedeutsam ist vielmehr eine Analyse der allgemeinen politischen Verhältnisse. Grobe Verletzungen des Prinzips der tatbestandlichen Bestimmtheit von Strafnormen sind allerdings ebenso wie eine evident fehlende Tat- und Schuldangemessenheit der angedrohten oder praktizierten Strafe Indizien für Verfolgungstendenzen.

69 Gemessen daran ist die dargestellte Verfolgung auf der Grundlage von Art. 282.2 StGB Verfolgung aus Gründen der Religion. Dafür spricht bereits, dass die Norm schon im Tatbestand die Organisation einer religiösen Vereinigung bzw. die Tätigkeit im Rahmen einer solchen Vereinigung nennt. Vor diesem Hintergrund kann auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Norm selbst an die Verbotsentscheidung eines Gerichtes anknüpft, die speziell und ausschließlich die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas betraf. Hinzukommen die enorme Weite des Tatbestands ("Teilnahme an der Tätigkeit ... einer verbotenen religiösen Gesellschaft") und das sehr hohe Strafmaß. Hinsichtlich der allgemeinen politischen Verhältnisse sei lediglich darauf hingewiesen, dass am Anfang der Bemühungen um ein Verbot der Zeugen Jehovas Mitte der 1990er Jahre ein Antrag einer Vereinigung stand, die mit der Russischen Orthodoxen Kirche assoziiert ist (vgl. dazu und zu weiteren Versuchen eines Verbotes EGMR, U.v. 22.11.2010 - 302/02), die wiederum für den russischen Staat eine zentrale Rolle spielt und die der Staat auch bevorzugt behandelt, etwa indem er verstärkt Kritik an ihr ahndet (vgl. etwa Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 13. Februar 2019 , S. 6 und 7).

70 Dass die Besonderheiten der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas, die ihr im Verbotsverfahren von Seiten der Behörden vorgehaltenen wurden (näher dazu EGMR, U.v. 22.11.2010 - 302/02), insbesondere ihr Richtigkeitsanspruch oder die Verweigerung von Bluttransfusionen, eine Einstufung als extremistische Organisation tragen könnten, deren Zerschlagung aus legitimen Gründen des Staats- oder Individualrechtsgutschutzes erforderlich wäre, liegt schon deshalb fern, weil die Zeugen Jehovas z.B. in der Bundesrepublik Deutschland als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt sind.

71 (h) Nach alledem haben Zeugen Jehovas aus der Russischen Föderation einen Anspruch auf die Anerkennung als Flüchtling, wenn ihre individuelle religiöse Prägung erwarten lässt, dass sie im Falle einer unterstellten Rückkehr in die Russische Föderation (wieder) eine herausgehobene Stellung innerhalb der Gemeinschaft einnehmen oder ihren Glauben öffentlich oder in Gemeinschaft mit anderen ausüben werden oder dass eine solche Betätigung allein aufgrund von Furcht vor Verfolgung unterbleiben würde. Ein solcher Anspruch besteht dagegen nicht, wenn angesichts der individuellen religiösen Prägung ein Verzicht auf verfolgungsträchtige Formen der Religionsausübung zumutbar erscheint. [...]