SG Münster

Merkliste
Zitieren als:
SG Münster, Beschluss vom 22.04.2020 - S 20 AY 4/20 ER - asyl.net: M28397
https://www.asyl.net/rsdb/M28397
Leitsatz:

Voraussetzungen für Leistungskürzung wegen Nichtvorlage von Pässen durch Asylsuchende:

1. Einstweilige Anordnung der vorläufigen Zahlung voller Asylbewerberleistungen, solange offen ist, ob die Pässe im Besitz der betroffenen Personen sind bzw. bei der Einreise waren.

2. Bei Leistungseinschränkungen besteht regelmäßig die Gefahr, dass der aktuelle notwendige Lebensunterhalt nicht gesichert ist. Mit Blick auf den Umfang der Leistungskürzungen bedarf es keiner konkreten Darlegung, welche Einzelbedarfe durch die Leistungseinschränkung nicht gedeckt werden können.

3. Bei einem Streit um laufende existenzsichernde Leistungen kann ein Anordnungsgrund für die Zeit vor Eingang des Eilantrags regelmäßig nicht angenommen werden. Nur wenn besondere Umstände geltend gemacht werden, können sie ausnahmsweise rückwirkend für die Zeit vor Eingang des Eilantrags gewährt werden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Mitwirkungspflicht, Anspruchseinschränkung, Leistungskürzung, Sozialrecht, Asylbewerberleistungsgesetz, einstweilige Anordnung, Pass,
Normen: SGG § 86b Abs. 2, AsylbLG § 1a Abs. 5 S. 1 Nr. 2, AsylG § 15 Abs. 2 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

Der Ausländer ist nach § 15 Abs. 2 Nr. 4 AsylG verpflichtet, seinen Pass oder Passersatz den mit der Ausführung des AsylG betrauten Behörden vorzulegen, auszuhändigen und zu überlassen. Auch wenn sich dies nicht eindeutig aus dem Wortlaut der Vorschrift ergibt, besteht die Mitwirkungspflicht nach § 15 Abs. 2 Nr. 4 AsylG nur, wenn der Ausländer tatsächlich im Besitz des Passes oder Passersatzes ist (Sieweke/Kluth in BeckOK-Ausländerrecht, Stand 01.11.2019, § 15 AsylG Rn. 5; vgl. Verwaltungsgericht Leipzig, Beschluss vom 27.05.2019 - 4 L 492/19.A - juris Rn. 17 ff.). Dies ergibt sich insbesondere aus dem systematischen Zusammenhang mit den nach § 15 Abs. 2 Nr. 6 AsylG bestehenden Mitwirkungspflichten, wenn der Ausländer keinen gültigen Pass oder Passersatz besitzt. Für diesen Fall ergibt sich aus § 15 Abs. 2 Nr. 6 AsylG keine (abstrakte) Passbeschaffungspflicht des Ausländers, sondern nur die Pflicht zu - im jeweiligen Einzelfall zu konkretisierenden - Mitwirkungshandlungen bei der Passbeschaffung (Oberverwaltungsgericht - OVG - Hamburg, Beschluss vom 29.09.2014 - 2 So 76/14 - juris Rn. 11 f.). Entsprechendes gilt im Übrigen für die ausweisrechtlichen Pflichten des Ausländers nach § 48 Abs. 3 AufentG; auch die Passbeschaffungspflicht gemäß § 60b AufenthG bezieht sich auf die Vornahme von Handlungen zur Beschaffung eines Passes (§ 60b Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Der Auffassung des Antragsgegners, dass § 15 Abs. 2 Nr. 6 AsylG grundsätzlich erst nach Abschluss des Asylverfahrens "wirken" könne (Seite 6 des Widerspruchsbescheides vom 21.04.2020), kann nicht gefolgt werden. § 1a Abs. 5 AsylbLG, der eine Anspruchseinschränkung ausschließlich für Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nr. 1, 1a und 7 AsylbLG vorsieht, setzt vielmehr voraus, dass eine Pflichtverletzung nach § 15 Abs. 2 Nr. 6 AsylG auch vor Abschluss des Asylverfahrens möglich ist.

Vorliegend kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Antragsteller die Mitwirkungspflicht nach § 15 Abs. 2 Nr. 4 AsylG verletzt haben. In tatsächlicher Hinsicht ist offen, ob sie noch im Besitz ihrer Pässe sind oder seit wann nicht mehr. Über einen Passersatz (vgl. § 4 AufenthV) verfügen sie, soweit ersichtlich, nicht. Wenn sie - wie von ihnen vorgetragen - bereits bei der Einreise nach Deutschland keine Pässe mehr besessen haben sollten, läge keine Verletzung der Mitwirkungspflicht nach § 15 Abs. 2 Nr. 4 AsylG vor. Die Behauptung des Ausländers, keinen Pass und keinen Passersatz zu besitzen, schließt für sich genommen die Annahme einer Mitwirkungspflichtverletzung nach § 15 Abs. 2 Nr. 4 AsylG zwar noch nicht aus. Letztlich kommt es auf die sachgerechte Würdigung der jeweiligen Einzelfallumstände an. Im Rahmen des vorliegenden Eilverfahrens kann aber nicht zugrunde gelegt werden, dass die Antragsteller bei ihrer Einreise noch im Besitz von Pässen gewesen sind. Nach den Gesamtumständen - unter Berücksichtigung der von ihnen abgegebenen eidesstattlichen Versicherung - erscheint eine Einreise ohne Pässe zumindest ebenso wahrscheinlich wie eine Einreise mit Pässen. Mit Blick darauf, dass der Antragsgegner die objektive Beweislast für die Voraussetzungen einer Anspruchseinschränkung trägt (vgl. Oppermann in jurisPK-SGB XII, 3. Auflage 2020, § 1a AsylbLG Rn. 65), kann eine Verletzung der Mitwirkungspflicht nicht bejaht werden. [...]

Die Antragsteller haben zudem einen Anordnungsgrund, also eine besondere Eilbedürftigkeit, glaubhaft gemacht. Im Falle von nach § 1a AsylbLG besteht regelmäßig die konkrete Gefahr, dass der aktuelle notwendige Lebensunterhalt nicht gesichert ist. Mit Blick auf den Umfang der Leistungskürzung (§ 1a Abs. 5 Satz 1 AsylbLG i.V.m. Abs. 1 der Vorschrift) bedarf es keiner konkreten Darlegung, welche Einzelbedarfe durch die gewährten Leistungen nicht gedeckt werden können. [...]