Zur Vorduldungszeit bei der Beschäftigungsduldung; keine Abschiebung nach Ägypten wegen Corona-Pandemie:
1. Keine einstweilige Anordnung zur Erteilung einer vorläufigen Beschäftigungsduldung, da die notwendige Dringlichkeit fehlt. Wegen der Aussetzung des Flugverkehrs nach Ägypten aufgrund der COVID-19-Pandemie ist die Rückführung unmöglich, so dass ein tatsächliches Abschiebungshindernis besteht.
2. Das Fehlen einer Duldung für über sieben Wochen stellt eine maßgebliche Zäsur für den in § 60d Abs. 1 Nr. 2 AufenthG vorausgesetzten zwölfmonatigen Vorduldungszeitraum dar. Das Ende einer Duldung wegen Wegfall des Duldungsgrunds und die Erteilung einer neuen Duldung wegen eines neuen Duldungsgrunds, der zu einer veränderten Sachlage im Hinblick auf die Durchführung aufenthaltsbeendender Maßnahmen führt, lassen den 12-monatigen Vorduldungszeitraum neu beginnen (unter Bezug auf: Bundesministerium des Innern, Weisung vom 20.12.2019 - unbekannt - asyl.net: M28035).
3. Eine Aufenthaltsgestattung kann auf den Vorduldungszeitraum nicht angerechnet werden (unter Bezug auf: VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 14.01.2020 - 11 S 2956/19 - asyl.net: M28051).
4. Die Nichtbeachtlichkeit kurzfristiger Unterbrechungen nach § 60d Abs. 3 S. 2 AufenthG gilt nicht für den Zeitraum der Vorduldungszeit, sondern nur für den der Beschäftigung und der Lebensunterhaltssicherung nach § 60d Abs. 1 Nr. 3 und 4 AufenthG.
5. Bei der Beschäftigungsduldung handelt es sich um einen Rechtsanspruch, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Die Formulierung "in der Regel" in § 60d Abs. 1 AufenthG bezieht sich nicht darauf, dass die Ausländerbehörde in Ausnahmefällen von den Tatbestandsvoraussetzungen absehen kann. Vielmehr wandelt sich im Ausnahmefall die gebundene in eine Ermessensentscheidung.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
7 Allerdings ist ein Anordnungsgrund dann nicht gegeben, wenn die Abschiebung des Ausländers aus tatsächlichen Gründen derzeit nicht zu erwarten ist (OVG LSA, Beschluss vom 30. August 2016 – 2 M 41/16 –, juris Rn. 2; Kuhla, in: BeckOK VwGO, Stand 1. Juli 2019, § 123 Rn. 135.2). Denn eine besondere Dringlichkeit der Sache kann in diesen Fällen nicht angenommen werden (OVG LSA, Beschluss vom 20. Januar 2009 – 2 M 288/08 –, juris Rn. 5; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 17. März 2004 – 2 M 21/04 –, juris Rn. 3).
8 So liegt der Fall hier. Es drohen derzeit keine Abschiebemaßnahmen durch die Antragsgegnerin. Mit Schriftsatz vom 31. März 2020 hat diese angekündigt, dem Antragsteller eine zunächst bis 19. April 2020 befristete Duldung zu erteilen. Dies begründet sie – gestützt auf den aktuellen Lageplan des Gemeinsamen Zentrums zur Unterstützung der Rückkehr (ZUR) vom 30. März 2020 – damit, dass eine Rückführung nach Ägypten aufgrund der COVID-19-Pandemie derzeit mindestens bis zum 19. April 2020 tatsächlich nicht möglich sei, da Ägypten bis zu diesem Datum den gesamten Flugverkehr ausgesetzt habe. Es besteht damit wegen der Unterbrechung der Verkehrswege ein tatsächliches Abschiebehindernis im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet – Aufenthaltsgesetz, AufenthG –. Es ist derzeit auch noch nicht konkret absehbar, wann dieses Abschiebehindernis entfallen wird. Die Kammer geht davon aus, dass angesichts des – auch in zeitlicher Hinsicht ungewissen – Ausmaßes der COVID-19-Pandemie der Flugverkehr nach Ägypten voraussichtlich noch über den 19. April 2020 hinaus eingeschränkt sein und aus diesem Grund die Duldung entsprechend verlängert werden wird. [...]
12 Zum anderen fehlt es an der Voraussetzung des § 60d Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, wonach der ausreisepflichtige Ausländer seit mindestens zwölf Monaten im Besitz einer Duldung sein muss. Dies ist hier nicht der Fall. Dem Antragsteller wurde erstmalig am 25. Februar 2019 eine Duldung erteilt, damals wegen nicht vorhandener Passdokumente. Nach zwischenzeitlicher Verlängerung der Duldung ab Mai 2019 auf Grundlage des § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG wegen eines laufenden Verfahrens vor der Härtefallkommission wurde dem Antragsteller die Duldung zuletzt am 8. Januar 2020 bis zum 8. Februar 2020 verlängert – so dass die geforderte zwölfmonatige Vorduldungszeit gerade nicht erreicht wurde. Nur ergänzend sei darauf hingewiesen, dass die während des Asylverfahrens gewährte Aufenthaltsgestattung keine Duldung im Sinne des § 60d Abs. 1 Nr. 2 AufenthG darstellt und dieser nicht gleichgestellt werden kann, so dass der Zeitraum der Aufenthaltsgestattung nicht auf die erforderliche Duldungszeit angerechnet werden kann (vgl. hierzu VGH BW, Beschluss vom 14. Januar 2020 – 11 S 2956/19 –, juris Rn. 13 ff.; Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 60d AufenthG Rn. 15).
13 Auch die jetzt von der Antragsgegnerin in Aussicht gestellte Duldung wegen tatsächlicher Abschiebehindernisse vermag an diesem Ergebnis nichts zu ändern. In dem von § 60d Abs. 1 Nr. 2 AufenthG geforderten Zwölf-Monats-Zeitraum muss der Ausländer durchgängig geduldet gewesen sein. Vorliegend besteht aber zwischen dem Ende der Befristung der ursprünglichen Duldung am 8. Februar 2020 und der neuen Duldung eine "Lücke" von über sieben Wochen, in denen der Antragsteller nicht geduldet war. Diese kann auch nicht als unbeachtlich abgetan werden, sondern stellt eine maßgebliche Zäsur für den Zwölf-Monats-Zeitraum dar.
14 Die Kammer macht sich insofern die Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat zu § 60d AufenthG zu eigen. Danach sind bei der Beurteilung des Zwölf-Monats-Zeitraumes kurzfristige Unterbrechungen des Besitzes der Duldung unbeachtlich, die darauf zurückzuführen sind, dass die Ausländerbehörde nach zeitlichem Ablauf einer Duldung für die Zeit der Prüfung von Duldungsgründen keine Duldung erteilt hat oder in denen der Ausländer unverschuldet, z.B. wegen Krankheit, daran gehindert war, die Duldung rechtzeitig verlängern zu lassen. Demgegenüber lassen das Ende einer Duldung wegen des Wegfalls des Duldungsgrundes und die Erteilung einer neuen Duldung wegen eines neuen Duldungsgrundes, der zu einer veränderten Sachlage im Hinblick auf die Durchführung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen führt, den Zwölf-Monats-Zeitraum mit Erteilung der neuen Duldung neu beginnen (Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat zum Gesetz über Duldung bei Ausbildung und Beschäftigung [BGBl. I 2019, S. 1021] vom 20. Dezember 2019, 60d.1.2). [...]
16 Die Regelung des § 60d Abs. 3 Satz 2 AufenthG, wonach kurzfristige Unterbrechungen, die der Ausländer nicht zu vertreten hat, unberücksichtigt bleiben, greift hier nicht. Denn ausweislich ihres Wortlautes bezieht sie sich allein auf die Fälle des § 60 Abs. 1 Nr. 3 und 4 AufenthG und damit die Zeiträume der Ausübung einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit und der Sicherung des Lebensunterhaltes durch ebendiese Beschäftigung – aber gerade nicht auf den notwendigen Duldungszeitraum nach Abs. 1 Nr. 2.
17 Entgegen der Auffassung des Klägers kann von den Voraussetzungen nach § 60d Abs. 1 Nr. 2 und AufenthG auch nicht ausnahmsweise abgesehen werden. Nach § 60d Abs. 1 AufenthG ist "in der Regel eine Duldung nach § 60a Absatz 2 Satz 3" zu erteilen. Es handelt sich grundsätzlich um einen strikten Rechtsanspruch – indes nur, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Anders als der Antragsteller meint, bezieht sich die Formulierung "in der Regel" dabei allerdings nicht darauf, dass die Ausländerbehörde in Ausnahmefällen vom Vorliegen der – zwingenden – Tatbestandsvoraussetzungen absehen könnte. Vielmehr wird bei Vorliegen eines Ausnahmefalles die Erteilung der Duldung in das Ermessen der Behörde gestellt. Es wandelt sich also die gebundene Entscheidung über einen strikten Anspruch in eine Ermessensentscheidung um (vgl. hierzu VGH BW, Beschluss vom 14. Januar 2020 – 11 S 2956/19 –, juris Rn. 20 m.w.N.). Zu dieser, auf der Rechtsfolgenseite zu verortenden Fragestellung gelangt man im vorliegenden Fall jedoch schon deshalb nicht, da nicht alle Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind. [...]