VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Urteil vom 14.05.2020 - 7 K 9189/17.F.A - asyl.net: M28440
https://www.asyl.net/rsdb/M28440
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für jungen Mann ohne familiäre Bindungen in Afghanistan:

1. Eine Existenzsicherung ist im vorliegenden Einzelfall nicht möglich, da der Kläger als Rückkehrer aus Europa einen erhöhten Entführungsrisiko ausgesetzt ist und wegen des Stigmas der Verwestlichung die Eingliederung in die afghanische Gesellschaft erschwert ist.

2. Hinzu kommt, dass der Kläger einer kleinen ethnischen Minderheit angehört, konfessionslos ist und keine familiäre Unterstützung durch in Afghanistan lebende Familienmitglieder erwarten kann.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Sadat, konfessionslos, Apostasie, Existenzgrundlage, Abschiebungsverbot,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

Der Kläger würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan einer besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt sein. Die humanitäre Lage in diesem Land lässt unter den besonderen Umständen des Klägers ein menschenwürdiges Dasein nicht zu.

Das Risiko für den Kläger ist zum einen dadurch erhöht, da erkennbar würde, dass er Rückkehrer aus Europa ist, da sowohl dadurch das Entführungsrisiko steigt als auch das Stigma einer Verwestlichung droht, was ihm eine Eingliederung in die afghanische Gesellschaft zusätzlich erschweren würde (vgl. Stahlmann, Überleben in Afghanistan?, Asylmagazin 2017, 73, 80; Hessischer VGH, Urteil vom 23.08.2019 - 7 A 2750/15.A -, Rn. 94, 131). Nach der Erkenntnislage wird der Kläger als Rückkehrer aus Europa erkennbar und dadurch einer erhöhten Gefährdung ausgesetzt sein (vgl. Stahlmann, Gutachten für VG Wiesbaden zu 7 K 1757/16.WI.A, 28.03.2018, S. 300 f.; siehe auch Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Mai 2018, 31.05.2018, S. 28 f.).

Hinzu kommt, dass der Kläger Angehöriger der Volksgruppe der Sadat, einer kleinen Minderheitengruppe ist und nach eigenen glaubhaften Angaben sich zu keiner Konfession bekennt. Dies bedingt im Fall seiner Rückkehr nahezu unüberwindbare Nachteile bzw. Hindernisse für die Sicherung seiner Existenz, zumal der Kläger nicht auf ein in Afghanistan bestehendes familiäres oder soziales Netzwerk zugreifen kann, welches ihn bei einem Aufbau seiner Existenz in Afghanistan unterstützen könnte. Das ist aber zum Überleben in Afghanistan zwingend notwendig. Der Vater ist schon länger tot, die übrigen nahen Verwandten halten sich in Iran auf, wie der Kläger in der mündlichen Verhandlung glaubhaft bekundete. Unter den besonderen Bedingungen des Klägers wäre er voraussichtlich nicht in der Lage, sich bei einer Rückkehr nach Afghanistan das Existenzminimum zu sichern. Die der Kammer vorliegenden Auskünfte geben diesbezüglich einen ausreichenden Überblick über die tatsächliche Lage in Afghanistan. Sie hat sich auch weiter erheblich verschlechtert. Unter den aus den Erkenntnisquellen sich ergebenden Rahmenbedingungen, vor allem mit nur sehr eingeschränktem Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Bildung, Wasser und Gesundheitsversorgung - selbst in den großen Städten Kabul, Herat oder Mazar-e-Sharif -, ist die Schaffung einer menschenwürdigen Lebensgrundlage für den Kläger im konkreten Fall nicht möglich (vgl. näher EASO, Country of Origin Report Afghanistan. Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City, August 2017, passim, insbesondere S. 24, 43, 46, 51 ff.; Stahlmann, Gutachten für VG Wiesbaden zu 7 K 1757/16.WI.A, 28.03.2018, S. 204 ff.; dies., Überleben in Afghanistan? Zur humanitären Lage von Rückkehrenden und ihren Chancen auf familiäre Unterstützung, Asylmagazin 2017, 73, 76 f.; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Mai 2018, 31.05.2018, S. 20; dass., Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: September 2016, 19.10.2016, S. 23, 25 ff.; UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 30 f., 35 f.; vgl. auch ausführlich zu den aktuellen sozialen und ökonomischen Bedingungen in Afghanistan Hessischer VGH, Urteil vom 23.08.2019 - 7 A 2750/15.A -, Rn. 102 ff.).

Jüngere Quellen bestätigen das in noch verschärfter Form. Nach den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender aus dem Jahr 2018 ist insbesondere Kabul aufgrund des großen Bevölkerungswachstums in den letzten Jahren nicht mehr in der Lage, neu Hinzugezogenen eine ausreichende Sicherheit vor Verelendung zu bieten (UNHCR, Eligibility Guidelines for assessing the international protection needs of asylum-seekers from Afghanistan, 30.08.2018, S. 112 ff.).

Bei diesen Verhältnissen liegt ein außergewöhnlicher Fall vor, in dem die humanitären Gründe gegen die Abschiebung "zwingend" sind. Für den Kläger besteht die ernsthafte Gefahr, dass er keine adäquate Unterkunft finden und keinen Zugang zu sanitären Einrichtungen haben würde. Es ist ebenfalls zu erwarten, dass ihm die zur Befriedigung der elementaren Lebensbedürfnisse erforderlichen Mittel fehlen würden. Ohne Hilfe würde der Kläger sich weder ernähren können noch wären die einfachsten hygienischen Voraussetzungen gewährleistet. Da auch nicht ersichtlich ist, wie sich diese Lage im Fall des Klägers anders gestalten oder bessern sollte, ist davon auszugehen, dass er Gefahr liefe, einer erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein, die einen Mangel an Respekt für seine Würde offenbart (zu diesem aus Art. 3 EMRK folgenden Maßstab siehe auch EGMR, Urteil vom 21.01.2011 - 30696/09 -, M.S.S./Belgien und Griechenland, NVwZ 2011, 413, 416). [...]