VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Urteil vom 30.03.2020 - 9 A 200/19 MD (Asylmagazin 8/2020, S. 272 ff.) - asyl.net: M28448
https://www.asyl.net/rsdb/M28448
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen Wehrdienstentziehung in Syrien:

1. Es liegen keine gesicherten Erkenntnisse über die Rückkehr von Personen, die sich zuvor durch Flucht ins Ausland dem Wehrdienst entzogen haben und ihre Behandlung durch die syrischen Sicherheitskräfte vor.

2. Auch ohne das Vorliegen konkreter Erkenntnisse ist bei einer Gesamtschau der Erkenntnismittel davon auszugehen, dass ihnen bei bei einer Rückkehr flüchtlingsrelevante Verfolgungshandlungen durch den syrischen Staat drohen.

3. Umfang sowie Art und Weise des Vorgehens der syrischen Sicherheitskräfte gegenüber oppositionellen Personen sind Ausdruck der allgemeinen "Unduldsamkeit" des syrischen Staates. Dies erlaubt den Rückschluss, dass der syrische Staat grundsätzlich den Personen eine politische Gegnerschaft unterstellt, deren Verhalten den staatlichen Interessen zuwiderläuft. Dies trifft auch auf Wehrdienstentzieher zu.

(Leitsätze der Redaktion; ausdrücklich entgegen OVG Rheinland-Pfalz, unter anderem Urteil vom 16.12.2016 - 1 A 10922/16 -asyl.net: M24708, OVG Nordrhein-Westfalen, unter anderem Urteil vom 04.05.2017 - 14 A 2023/16.A (Asylmagazin 7-8/2017, S. 284 ff.) - asyl.net: M25072, VGH Baden-Württemberg, unter anderem Urteil vom 23.10.2018 - A 3 S 791/18 - Asylmagazin 1-2/2019, S. 26 ff. - asyl.net: M26715, VGH Bayern, unter anderem Urteil vom 12.04.2019 - 21 B 18.32459 - asyl.net: M27355)

 

Schlagwörter: Syrien, Upgrade-Klage, Militärdienst, Wehrdienstentziehung, Verfolgungsgrund, politische Verfolgung, Asylrelevanz, Verknüpfung, Verfolgungshandlung, Rückkehrgefährdung, Nachfluchtgründe, Flüchtlingseigenschaft, subsidiärer Schutz, Flüchtlingsanerkennung
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3 Abs. 4, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 5, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 3, AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 28, RL 2011/95/EU Art. 9 Abs. 2 Bst. e, RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 2 Bst. c, AsylG § 28 Abs. 1a, RL 2011/95/EU Art. 12 Abs. 2
Auszüge:

[...]

2. Es kann dahinstehen, ob der Kläger bereits vorverfolgt aus Syrien ausgereist ist. Jedenfalls droht ihm bei seiner Rückkehr politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit. Das Gericht ist nach den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln auch weiterhin davon überzeugt, dass der syrische Staat mit Verfolgungshandlungen i.S.v. § 3a AsylG auf den Militärdienstentzug des Klägers reagiert und damit zumindest auch an eine ihm unterstellte politische Überzeugung anknüpft. [...]

bb) Von den vorstehenden Erkenntnissen ist auch weiterhin auszugehen; darüber hinaus hält das Gericht auch in Kenntnis der obergerichtlichen Rechtsprechung an seiner Einschätzung zur Rückkehrgefährdung fest (vgl. zum Stand der Rechtsprechung OVG Münster, U. v. 13.06.2019 - 14 A 2089/18 -; BayVGH, u.a. U. v. 12.04.2019 - 21 B 18.32469 - sowie SächsOVG, 'U. v. 21.08.2019 - 5 A 644/18 -; alle juris). [...]

Auch lassen sowohl die erneute Bewertung der oben angeführten Erkenntnismittel als auch die Einbeziehung der nunmehr vorliegenden Prognosetatsachen in ihrer Gesamtschau das erkennende Gericht nicht zu einer gegenteiligen Überzeugung gelangen. Zwar muss die Beurteilung der maßgeblichen Frage. ob aus der Bundesrepublik Deutschland nach Syrien zurückkehrende Personen, die sich dem Wehrdienst aufgrund ihres Aufenthalts im (westlichen) Ausland entzogen haben; mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr von Verfolgungshandlungen droht, die jedenfalls auch Ausdruck einer ihnen unterstellten illoyalen, politisch oppositionellen Haltung sind, auch weiterhin auf einer "schmalen" Tatsachengrundlage erfolgen (vgl. dazu BayVGH, U. v. 12.04.2019, Rn. 70 sowie SächsOVG, a.a.O., Rn 37). Denn auch zum jetzigen Zeitpunkt ist eine Rückkehr von solchen Personen nach Syrien nicht bekannt, so dass Erkenntnisse darüber, ob und welche Maßnahmen das syrische Regime ergreift, naturgemäß nicht vorliegen können. Aber auch eine solche "schmale" Tatsachengrundlage entbindet das Gericht nicht von einer eingehenden Analyse der Erkenntnisquellen und einer Bewertung der sich daraus ergebenden Erkenntnisse; nur dann, wenn dem Tatsachengericht auf der Grundlage der zu seiner Überzeugung feststehenden Prognosebasis eine eigene Prognoseentscheidung nicht möglich ist, darf es eine an der materiellen Beweislast auszurichtende Nichterweislichkeitsentscheidung treffen (BVerwG, U. v. 04.07.2019, a.a.O.).

aaa) Das erkennende Gericht geht mithin weiterhin davon aus, dass sich den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln keine konkreten Tatsachen zum Umgang des syrischen Staates mit Rückkehrern, die sich dem Militärdienst entzogen haben, entnehmen lassen. [...]

bbb) Aber auch ohne das Vorliegen von konkreten Erkenntnissen zum Umgang mit zurückkehrenden Wehrdienstentziehern gelangt das Gericht im Ergebnis einer Gesamtschau der Erkenntnismittel weiterhin zu der Überzeugung, dass die bei einer Rückkehr in ihr Heimatland drohenden Maßnahmen nicht nur - subsidiären Schutz nach § 4 AsylG, auslösende - Sanktionen für die Nichterfüllung einer alle wehrfähigen Männer gleichermaßen treffende Wehrdienstpflicht sind, sondern die Maßnahmen auch Ausdruck einer diesen Personen seitens des syrischen Regimes und seiner Sicherheitskräfte unterstellten illoyalen, politisch oppositionellen Haltung sind. Die für Letzteres sprechenden Umstände besitzen ein größeres Gewicht und überwiegen deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen (BVerwG, U. v. 04.07.2019, a.a.O.).

Dabei ist aufgrund der o.a. Erkenntnismittel weiterhin davon auszugehen, dass auch für die nach Syrien zurückkehrenden Personen, die die Wehrpflicht durch Aufenthalt im westlichen Ausland nicht erfüllt haben, ein Zusammentreffen mit den Sicherheitsbehörden unausweichlich ist, da sowohl den mit der Einreise betrauten Behörden als auch den Sicherheitsbehörden die Namen der Wehrdienstentziehern bekannt sind (SFH, Syrien: Fahndungslisten etc., v. 11.06.2019; so auch BayVGH, U. v. 12.04.2019, Rn. 56). Sind Listen erstellt, in denen die Namen der Personen aufgeführt sind, die sich dem Wehrdienst entzogen haben, so entspricht es einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet (BVerwG, U. v. 04.07.2019, a.a.O.), dass sich diese Personen nach ihrer Wiedereinreise dem Zugriff der Sicherheitsbehörden - sogar - mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgesetzt sehen werden. Auch den nunmehr ergänzend vorliegenden Erkenntnismitteln ist zu entnehmen, dass für diesen Fall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit schwerste Menschenrechtsverletzungen drohen. da die Sicherheitskräfte bei der Wahl ihrer Mittel freie Hand haben und die Anwendung von Gewalt - bis hin zur Folter - zu den üblichen Vorgehensweise der Sicherheitsbehörden gehört (SFH, Syrien: Aufschub des Militärdienstes für Studenten u.a., v. 11.06.2019, m. w.N.).

Die den Rückkehrern so zur Überzeugung des Gerichts drohenden Verfolgungshandlungen knüpfen noch immer - jedenfalls auch - an die vom-syrischen Staat diesen Personen unterstellte illoyale Haltung an, die nach dessen Sichtweise ihren Ausdruck in der Nichterfüllung der Wehrpflicht gefunden hat.

Das Gericht teilt zwar die in der obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. VGH Baden-Württemberg, U. v. 23.10.2018 - A 3 S 791/18 -, juris) vertretene Ansicht, dass sich allein aus der Brutalität des syrischen Regimes keine zwingenden Rückschlüsse für die Anknüpfung des Handelns an die mit dem Wehrdienstentzug zum Ausdruck gekommene politische Überzeugung ableiten lassen. Das gleichwohl in einer - unüberschaubaren - Vielzahl von Fällen gerade gegen Oppositionelle dokumentierte Vorgehen von Sicherheitskräften verliert damit jedoch nicht gänzlich seine Bedeutung für die Beurteilung eines Verfolgungsgrundes, welche auch in solchen Fällen anhand des inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtethelt der Maßnahme vorzunehmen ist,(BVerwG, U. v. 04.07.2019, a.a.O.). Der Umfang sowie die Art und Weise des diesbezüglichen Vorgehens sind zur Überzeugung des Gerichts jedenfalls Ausdruck für die "Unduldsamkeit" eines Staates und lassen (noch immer) hinreichende Rückschlüsse darauf zu, dass dann eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für die Zuschreibung eines politischen Merkmals spricht, wenn die betroffenen Personen ein Verhalten offenbart haben, welches im eklatanten Widerspruch zu den um seine Existenz ringenden syrischen Staat stand/steht (vgl. ablehnend zum Freund-Feind-Schema OVG Lüneburg, U. v. 05.12.2018 - 2 LB 570/18 -, juris). Dass diese Personen darüber hinaus auch Merkmale (hier Entzug vom Wehrdienst) aufweisen, die zwar auch für sich genommen Grund für Verfolgungshandlungen nach § 3a AsylG sein könnten, steht unter diesen politischen Verhältnissen der Bewertung einer solchen Verfolgungshandlung als - zumindest auch - an das Merkmal der politischen Überzeugung i.S.v. § 3b Abs. 1 Ziffer 5 AsylG anknüpfend nicht entgegen. [...]

Insbesondere im Lichte der Ursache für die "schmale" Tatsachengrundlage ist das Gericht bei einer Gesamtschau der vorliegenden Erkenntnismittel davon überzeugt. dass Personen, die sich durch ihre Flucht in das westliche Ausland, mag sie auch allein oder überwiegend bürgerkriegsveranlasst gewesen sein, dem Wehrdienst entzogen haben, bei ihrer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen, Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu sein und diese auch an eine vom syrischen Staat diesen Personen zumindest unterstellte politische Überzeugung anknüpfen. [...]