LG Karlsruhe

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Zitieren als:
LG Karlsruhe, Beschluss vom 28.05.2020 - 11 T 175/20 - asyl.net: M28459
https://www.asyl.net/rsdb/M28459
Leitsatz:

Keine Haftverlängerung bei Unmöglichkeit der Abschiebung wegen Corona:

Steht zum Zeitpunkt der Verlängerungsentscheidung bereits fest, dass eine Abschiebung nicht innerhalb der Drei-Monats-Frist des § 62 Abs. 3 S. 3 AufenthG stattfinden kann, so ist sie rechtswidrig. Für die Prognose muss auf den Zeitpunkt der ersten Haftanordnung abgestellt werden. Kann die Abschiebung wegen aufgrund der Corona-Pandemie fehlender Flugverbindungen nicht stattfinden, kommt es nicht mehr darauf an, ob zusätzlich noch ein selbstverschuldetes Abschiebungshindernis besteht.

(Leitsätze der Redaktion; zur Vorgängerregelung des § 62 Abs. 2 S. 4 AufenthG bereits BGH, Beschluss vom 09.06.2011 - V ZB/230/10; unter Bezug auf BGH, Beschluss vom 06.05.2010 - V ZB 193/09 - asyl.net: M17407)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Abschiebung, Unmöglichkeit, Unmöglichkeit der Abschiebung, Corona-Virus, Beurteilungszeitpunkt, Haftverlängerung, Verlängerungsantrag, Drei-Monats-Frist, Verschulden, Haftdauer,
Normen: AufenthG § 62 Abs. 3 S. 3, AufenthG § 62 Abs. 2 S. 4 a.F.,
Auszüge:

[...]

cc) Die am 13.05.2020 erfolgte Haftverlängerung bis 06.06.2020 ist dennoch zu Unrecht erfolgt, weil die Sicherungshaft nach § 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG unzulässig ist, wenn feststeht, dass aus Gründen, die der Ausländer nicht zu vertreten hat, die Abschiebung nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden kann.

Im Zeitpunkt der Verlängerungsentscheidung am 13.05.2020 stand unbeschadet der ebenfalls offenen Frage, wann das Passersatzpapier erteilt werden würde, bereits fest, dass die Dreimonatsfrist aus Gründen, die der Betroffenen nicht zu vertreten hat, nicht eingehalten werden kann.

Denn der nächstmögliche Flug stand und steht unstreitig erst am 05.06.2020 zur Verfügung. Die weitere Beteiligte hat dargelegt, dass die Aussetzung des kompletten Flugverkehrs jedenfalls noch bis zum 31.05.2020 andauert und der erstmögliche Flugtermin am 05.06.2020 stattfindet. Die Dreimonatsfrist des § 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG lief aber bereits am 25.05.2020 ab, nachdem sich der Betroffene bereits seit dem 25.02.2020 in Abschiebungshaft befindet.

Im Zeitpunkt der Stellung des Verlängerungsantrags wie auch der amtsgerichtlichen Entscheidung am 13.05.2020 stand daher bereits fest, dass der Dreimonatszeitraum zwingend überschritten werden würde.

Entgegen der von der weiteren Beteiligten im Antrag vom 27.04.2020 geäußerten Ansicht gilt hier auch in Ansehung der Vorschrift in § 62 Abs. 4 Satz 1 AufenthG nicht etwa, dass eine Haftdauer bis zu sechs Monaten ohne weiteres rechtmäßig wäre, auch wenn die Verzögerung nicht vom Betroffenen zu vertreten ist. Die Regelung des § 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG lässt vielmehr - wie die Vorgängerregelung in § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG a.F. - erkennen, dass im Regelfall die Dauer von drei Monaten Haft nicht überschritten werden soll und eine darüber hinausgehende Haftdauer nicht ohne weiteres als verhältnismäßig angesehen werden darf (zur Vorgängerregelung z.B. BGH, Beschluss vom 09.06.2011 - V ZB 230/10 - NJW 2011, 3450, Juris Rn. 5 m.w.N.). Daraus folgt, dass die Verlängerung einer auf drei Monate befristeten Haftanordnung unzulässig ist, wenn die Abschiebung aus Gründen unterblieben ist, die vom Ausländer nicht zu vertreten sind (a.a.O. m.w.N.). Dies erfordert die Prognose, dass die Abschiebung innerhalb von drei Monaten, gerechnet ab dem Zeitpunkt der ersten Haftanordnung überhaupt - also ohne Berücksichtigung etwaiger von dem Betroffenen zurechenbar veranlassten Verzögerungen - hätte durchgeführt werden können (a.a.O. m.w.N.). Die Verlängerung der Haft über die Dauer von drei Monaten hinaus ist unzulässig, wenn die Abschiebung aus Gründen unterbleibt, die von dem Ausländer nicht zu vertreten sind (BGH, Beschluss vom 06.50.2010 - V ZB 193/09 - juris Rn. 23).

Im vorliegenden Fall mögen zwar u.U. etwaige Verzögerungen bei der Beschaffung von Identitätsdokumenten als vom Betroffenen zu vertreten angesehen werden können, weil er selbst, wie die Beantragung eines Schengen-Visums im Jahr 2018, bei der der Betroffene einen marokkanischen Reisepass vorlegte, zeigt, einen Reisepass zu besitzen scheint, diesen aber weder mit sich führt, noch seine Existenz mitgeteilt hat. Allerdings verzögert sich die Abschiebung nicht nur wegen des fehlenden Passersatzpapiers, sondern wegen der infolge der Corona-Pandemie erfolgten Aussetzung des Flugverkehrs über den 25.05.2020 und damit über das Ende des Dreimonatszeitraums hinaus. Diese Verzögerung ist vom Betroffenen nicht zu vertreten. Auch wenn ein Reisedokument vorläge bzw. vorgelegen hätte, hätte, wie bereits bei Erlass der Verlängerungsentscheidung feststand, die Abschiebung nicht bis zum 25.05.2020 erfolgen können. [...]