OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 24.10.2002 - 1 Bf 67/98.A - asyl.net: M2856
https://www.asyl.net/rsdb/M2856
Leitsatz:

Für Rückkehrer nach Afghanistan besteht jedenfalls im Kabuler Raum keine extreme Gefahrenlage mehr, die eine verfassungskonforme Anwendung des § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG trotz fehlender individueller Gefahr rechtfertigen würde (wie Urteil des Senats vom 14.6.2002, 1 Bf 38/02. A und 1 Bf 37/02.A).(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Afghanistan, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Familienangehörige, Kinder, Kommunistische Partei, Mitglieder, Sippenhaft, Sicherheitslage, Versorgungslage, Existenzminimum, Hilfsorganisationen, Extreme Gefahrenlage
Normen: AuslG § 53 Abs. 6 S. 1
Auszüge:

Es besteht kein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG zugunsten der Kläger.

Das gilt sowohl in direkter (a) als auch in entsprechender Anwendung (b) dieser Vorschrift.

Für eine Gefährdung der Kläger unter dem Gesichtspunkt der Sippenhaft reichen die Angaben des Klägers zu 1) sowie die seiner Ehefrau, der Klägerin zu 2) nicht aus. Zwar sollen sowohl ihr Sohn als auch ihr Schwiegersohn, die (...) nach ihren Angaben von Mudjaheddin verschleppt worden sind, im Sicherheitsministerium gearbeitet haben. Über Art und Dauer dieser Tätigkeit sowie die jeweilige Position innerhalb des Ministeriums wussten die Kläger aber nichts näheres zu sagen. Es bestehen danach keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass Sohn und/oder Schwiegersohn im Ministerium an besonders hervorgehobener Stelle oder sonst irgendwie prominent tätig waren, was auch nach neuerer Auskunftslage (vgl. Danesch, Auskunft v. 5.8.2002 an das Verwaltungsgericht Schleswig, S. 3) Mindestvoraussetzung für eine beachtliche Verfolgungsgefahr wäre. Die einfache Mitgliedschaft des Sohnes in der früheren Kommunistischen Partei kann dementsprechend insoweit ebenfalls nicht ausreichen.

Eine extreme allgemeine Gefahrenlage, welche eine analoge Anwendung des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG rechtfertigen würde (vgl. zuletzt: BVerwG, Urt. v. 12.7.2001, NVwZ 2001 S. 1420), besteht für die Kläger zumindest im Kabuler Raum derzeit nicht.

Die Sicherheitslage in Kabul und Umgebung wird dem neuesten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 4. Juni 2002 zufolge im Verhältnis zum übrigen Land auf Grund der ISAF-Präsenz vergleichsweise als zufriedenstellend, wenn auch fragil bezeichnet. Dementsprechend wird auch von Danesch (Auskunft v. 5.8.2002) ausgeführt, dass die Regierung Karzai in der Hauptstadt mit Hilfe der Internationalen Friedenstruppe in Stärke von über 4.000 Mann in der Lage sei, eine übergreifende Ordnung durchzusetzen, so dass extreme Formen von gewaltsamen Auseinandersetzungen unterbunden würden und der Einzelne im Großen und Ganzen nicht um seine Existenz zu bangen brauche. Das gelte allerdings angesichts der Ausdehnung der Hauptstadt, in der inzwischen wieder fast 2 Millionen Menschen lebten, nicht überall, insbesondere etwa in den Vororten. Dort komme es oft noch zu Blutrache und dazu, dass unliebsame Personen von manchen noch mächtigen ehemaligen Kommandanten der Mudjaheddin misshandelt und getötet würden. Ein ähnliches Bild der Sicherheitslage in Kabul ergibt sich aus neueren Presseberichten (vgl. Spiegel v. 17.6.2002, FAZ v. 6.9.2002). Auch wenn es dort jüngst zu einem schweren Bombenanschlag gekommen ist, dem mindestens 15 Menschen zum Opfer gefallen sind (vgl. SZ v. 6.9.2002), ist die derzeitige allgemeine Sicherheitslage in Kabul - eindeutig - nicht so, dass dort jeder einzelne Rückkehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Schritt und Tritt dem sicheren Tod oder der Gefahr schwerster Verletzungen ausgesetzt wäre. Hinsichtlich der Versorgungslage gilt für den Kabuler Raum im Ergebnis nichts anderes. Dabei verkennt der Senat nicht, dass auch hier nach wie vor diverse Schwierigkeiten bestehen, die Bevölkerung mit ausreichender Nahrung zu versorgen und ihr jedenfalls notdürftige Unterbringungsmöglichkeiten zu verschaffen. Die weitere Entwicklung wird entscheidend von der Fortdauer der internationalen Hilfe abhängen, ohne die eine Mindestversorgung auch in Kabul nicht sichergestellt werden könnte. Daraus erklären sich auch die zahlreichen Aufrufe und Warnungen von Hilfsorganisationen, die sich vor allem durch die große Rückkehrbereitschaft vor besondere Herausforderungen gestellt sehen und daher auf eine Verstärkung der Hilfe drängen (vgl. UNHCR, Presseerklärung v. 7.6.2002; NZZ v. 24.6., 12.7. u. 7.8.2002, Die Welt v. 20.7.2002, dpa v. 4.8.2002). Allerdings sind die zum Teil geäußerten Befürchtungen, etwa des WFP, dass ein totaler Zusammenbruch der Nahrungsmittelversorgung bevorstehe, bisher nicht eingetreten. Insbesondere in den Großstädten gibt es derzeit genügend Lebensmittel, damit kein Mensch zu verhungern braucht (Danesch, a.a.O., S. 6). Auch nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 4. Juni 2002 (S. 7) ist die Versorgungssituation in Kabul - bei allerdings hohen Preisen - grundsätzlich einigermaßen zufriedenstellend.