VG Trier

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Zitieren als:
VG Trier, Urteil vom 19.05.2020 - 1 K 5531/18.TR (Asylmagazin 9/2020, S. 310 ff.) - asyl.net: M28601
https://www.asyl.net/rsdb/M28601
Leitsatz:

Flüchtlingsschutz für Zeug*innen Jehovas aus der Russischen Föderation auch ohne exponierte Stellung:

"1. Angehörigen der Zeugen Jehovas droht in der Russischen Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung wegen ihrer Religion, wenn sie die regelmäßige Teilnahme an Versammlungen der Gemeinde und die Missionierungstätigkeit (Predigtwerk) als unverzichtbare Elemente ihrer religiösen Identität verstehen (Rn. 52).

2. Die Verfolgungsdichte ist nicht aus der Relation der Verfolgungsmaßnahmen zur Gesamtzahl der in der Russischen Föderation lebenden Zeugen Jehovas zu ermitteln, da dies die Zahl der Glaubensangehörigen unberücksichtigt ließe, die aus Furcht vor Verfolgung auf öffentliche Versammlungen und das Predigtwerk verzichten (Rn. 62).

3. Maßgeblich ist vielmehr, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Zeuge Jehovas verfolgt wird, der entgegen den Vorschriften des russischen Strafgesetzbuchs bei seiner Glaubensausübung Versammlungen besucht oder im Rahmen des Predigtwerks neue Mitglieder anzuwerben versucht (Rn. 63).

4. Eine öffentliche Glaubensausübung der Zeugen Jehovas findet nach den zur Verfügung stehenden Erkennt­nissen angesichts der massiven Strafandrohungen in der Russischen Föderation faktisch nicht mehr statt. Zugleich ist eine stetige Zunahme strafrechtlicher Ermittlungsverfahren und eine Verlagerung hin zu der Verfolgung nichtöffentlich stattfindender Glaubensausübung zu verzeichnen (Rn. 64).

5. In Ansehung dessen muss von einem mehr als beachtlichen Verfolgungsrisiko für Personen ausgegangen werden, die nicht aus Furcht vor strafrechtlicher Verfolgung auf öffentliche Versammlungen und das Predigtwerk verzichten, sondern diese Glaubenselemente entsprechend ihrer inneren Überzeugung und den Glaubenslehren der verbotenen Organisation öffentlich ausleben und sich hierdurch exponieren (Rn.64)."

(Amtliche Leitsätze; Änderung der bisherigen Rechtsprechung, vgl. VG Trier, Urteil vom 13.11.2018 - 1 K 318/18.TR - asyl.net: M26865)

Schlagwörter: Russische Föderation, Zeugen Jehovas, Flüchtlingsanerkennung, Asylrecht, Asylanerkennung, religiöse Verfolgung, Religionsgemeinschaft, Religionszugehörigkeit, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Gruppenverfolgung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3a Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 2, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

33 3. Ausgehend von diesen Maßstäben ist den Klägern die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 4 AsylG zuzuerkennen. Es kann offenbleiben, ob sie die Russische Föderation wegen einer Vorverfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG verlassen haben. Jedenfalls droht ihnen bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände im Falle der hypothetischen Rückkehr in die Russische Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas, so dass ihnen nicht zuzumuten ist, in den Heimatstaat zurückzukehren.

34 a. Ausgangspunkt der Überzeugungsbildung des Gerichts sind die anhand der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel zu erwartenden tatsächlichen Umstände in der Russischen Föderation. Hiernach sind Anhänger der Zeugen Jehovas aufgrund ihres Glaubens in der jüngeren Vergangenheit Ziel zahlreicher repressiver Maßnahmen des russischen Staates geworden. [...]

52 b. Die Gesamtbetrachtung der gegen die Zeugen Jehovas gerichteten Maßnahmen staatlicher Stellen in der Russischen Föderation führt das Gericht zu der Überzeugung, dass Angehörigen der Zeugen Jehovas im Falle der hypothetischen Rückkehr in die Russische Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung wegen ihrer Religion droht. Diese Gefahr besteht über die bisher von der Kammer positiv entschiedenen Fälle einer besonders exponierten Stellung innerhalb der Glaubensgemeinschaft (vgl. hierzu VG Trier, Urteil vom 13.11.2018 - 1 K 318/18.TR -) oder einer sonstigen besonderen Vulnerabilität im Einzelfall (vgl. hierzu VG Trier, Urteil vom 10.07.2018 - 1 K 13722/17.TR -, zur besonderen Abhängigkeit von Sozialleistungen) hinaus bei jedem aktiven Mitglied der Zeugen Jehovas, das (wie im Regelfall) die regelmäßige Teilnahme an Versammlungen der Gemeinde und die Missionierungstätigkeit (Predigtwerk) als unverzichtbaren Teil seiner religiösen Identität versteht. An seiner bisherigen Rechtsprechung, die zusätzlich einen Sonderrisikofaktor in der Person des konkreten Gläubigen gefordert hat (vgl. VG Trier, Urteil vom 13.11.2018 - 1 K 3406/18.TR -), hält das Gericht aufgrund neuer Erkenntnisse über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation nicht fest.

53 a. Die nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erforderlichen Voraussetzungen für die Annahme einer schwerwiegenden Verletzung der Religionsfreiheit im Sinne von Art. 9 Abs. 1 lit. a) QRL und eine taugliche Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG liegen in Gestalt des von den staatlichen russischen Behörden ausgesprochenen Verbots der Zeugen Jehovas, der Einstufung als extremistische Organisation und den hieran anknüpfenden Zwangsmaßnahmen vor. Diese stellen objektiv erhebliche Eingriffe in den Schutzbereich der öffentlichen Glaubensausübung (forum externum) dar, weil sie aufgrund ihrer Art und Schwere sowie ihrer Folgen für den betroffenen Gläubigen geeignet sind, unter dem Druck der Verfolgungsgefahr den Verzicht auf wesentliche Elemente der Glaubensbetätigung zu erzwingen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, juris Rn. 24, 26). [...]

61 cc. Schließlich drohen den Klägern - insoweit entgegen der Einschätzung der Beklagten - die genannten Folgen und Sanktionen bei Ausübung der verbotenen öffentlichkeitswirksamen Glaubensausübung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit. Die Kläger müssen berechtigterweise befürchten, dass ihnen aufgrund einer öffentlichen religiösen Betätigung in der Russischen Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine schwere Rechtsgutverletzung droht.

62 Zur Feststellung der Verfolgungswahrscheinlichkeit sind insoweit die für eine Gruppenverfolgung geltenden Maßstäbe nicht vollumfänglich übertragbar, weil eine Vergleichsbetrachtung der Zahl der stattgefundenen Verfolgungsakte in der Russischen Föderation zur Gesamtzahl dort lebenden Zeugen Jehovas die unter Umständen hohe Zahl der Glaubensangehörigen unberücksichtigt ließe, die aus Furcht vor Verfolgung auf öffentliche Versammlungen und das Predigtwerk verzichten. Hängt die Verfolgungsgefahr aber im Wesentlichen von dem willensgesteuerten Verhalten des Einzelnen - hier: der verbotenen Ausübung des Glaubens in der Öffentlichkeit - ab, ist für die Gefahrenprognose auf die Gruppe der ihren Glauben trotz der Verbote in der Öffentlichkeit praktizierenden Glaubensangehörigen abzustellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - juris Rn. 33).

63 Nach den Vorgaben des Bundesverwaltungsgerichts ist ausgehend hiervon in einem ersten Schritt die Zahl der ihren Glauben in strafrechtlich verbotener Weise praktizierenden Gläubigen - bei allen damit verbundenen Schwierigkeiten - jedenfalls annäherungsweise zu bestimmen. In einem weiteren Schritt ist sodann festzustellen, wie viele Verfolgungsakte die Angehörigen dieser Gruppe treffen. Dabei ist insbesondere zu ermitteln, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Zeuge Jehovas inhaftiert und bestraft wird, der entgegen den Vorschriften des Russischen Strafgesetzbuchs bei seiner Glaubensausübung Versammlungen besucht oder im Rahmen des Predigtwerks neue Mitglieder anzuwerben versucht. Bei der Relationsbetrachtung, die die Zahl der ihren Glauben verbotswidrig in der Öffentlichkeit praktizierenden Zeugen Jehovas mit der Zahl der tatsächlichen Verfolgungsakte in Beziehung setzt, ist schließlich zu berücksichtigen, dass es sich um eine wertende Betrachtung handelt, die auch eventuell bestehende Unsicherheiten und Unwägbarkeiten der staatlichen Strafverfolgungspraxis mit einzubeziehen hat. Besteht aufgrund einer solchen Prognose für die - möglicherweise zahlenmäßig nicht große - Gruppe der ihren Glauben in verbotener Weise in der Öffentlichkeit praktizierenden Glaubensangehörigen ein reales Verfolgungsrisiko, kann daraus der Schluss gezogen werden, dass auch die Gesamtgruppe der Zeugen Jehovas, für die diese öffentlichkeitswirksamen Glaubenspraktiken ein zentrales Element ihrer religiösen Identität darstellen und in diesem Sinne unverzichtbar sind, von den Einschränkungen ihrer Religionsfreiheit in flüchtlingsrechtlich beachtlicher Weise betroffen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - juris Rn. 33). [...]