VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 04.06.2020 - A 14 K 17871/17 - asyl.net: M28634
https://www.asyl.net/rsdb/M28634
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für einen aserbaidschanischen Oppositionellen:

Aktiven Mitgliedern der Volksfront-Partei droht in Aserbaidschan politische Verfolgung.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Aserbaidschan, politische Verfolgung, Aserbaidschanische Volksfront-Partei, Azerbaycan Xalq Cebhesi Partiyasi, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

Die Betätigungsmöglichkeit der politischen Opposition ist eingeschränkt. Mitglieder und Sympathisanten regierungskritischer Parteien sind Benachteiligungen ausgesetzt. In politisch relevanten Fällen wird der Grundsatz der Unschuldsvermutung regelmäßig nicht beachtet. Erklärungen der Staatsanwaltschaft und des Innenministeriums enthalten oft Vorverurteilungen. Insbesondere in Strafverfahren gegen kritische Journalisten und oppositionelle Menschenrechtsaktivisten scheinen die Urteile politischen Vorgaben zu folgen. Die Rechtsprechung steht faktisch unter dem Einfluss der Regierungsgewalt. Die Versammlungsfreiheit ist stark eingeschränkt. In der Praxis werden Versammlungen in der Innenstadt von Baku nicht gestattet: Die Veranstalter werden in der Regel auf einen dicht umbauten Fußballplatz außerhalb des Zentrums verwiesen. Regierungskritische Kundgebungen löst die Polizei häufig unter Anwendung unmittelbaren Zwangs auf. Regelmäßig werden die Teilnehmer an solchen Aktionen festgesetzt, aber meistens nach einigen Stunden oder zuweilen Tagen wieder auf freien Fuß gesetzt. Journalisten und Herausgeber setzen sich im Falle kritischer Berichterstattung der Gefahr aus, aufgrund ihrer Tätigkeit Nachteile bis hin zur Gefängnishaft zu erleiden. Es gibt glaubwürdige Berichte über Misshandlungen verhafteter Personen in Polizeistationen. Die überwiegende Zahl der berichteten Vorfälle soll sich in Polizeistationen bzw. in Untersuchungshaft ereignet haben (Lagebericht Auswärtiges Amt vom 22.02.2019). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in den letzten Jahren in eine größere Anzahl von Entscheidungen getroffen, die willkürliche Festnahmen und Verurteilungen aus politischen Gründen in Aserbaidschan betreffen. In einem Urteil hat der Gerichtshof ein "besorgniserregendes Muster von willkürlichen Festnahmen von Regierungskritikern, Vertretern der Zivilgesellschaft und Menschenrechtsaktivisten durch politisch motivierte Strafverfolgung und Missbrauch des Strafrechts" festgestellt (EGMR, Aliyev v. Azerbaijan, Application Nr: 68762/14 and 71200/14).

Die aus der Vorverfolgung des Klägers zu 1 folgende Vermutung einer aktuellen Verfolgungsgefahr ist nicht durch stichhaltige Gründe widerlegt. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich sein Name weiterhin auf einer Fahndungsliste der aserbaidschanischen Behörden befindet. Es besteht daher nach wie vor die konkrete Gefahr, dass er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland verhaftet würde und sich einem politisch motivierten Strafverfahren ausgesetzt sähe. Bei einer Einreise am Flughafen müsste er eine Passkontrolle passieren (Lagebericht Auswärtiges Amt vom 22.02.2010, S. 17); Die politischen Machtverhältnisse in Aserbaidschan haben sich seit seiner Ausreise im Jahr 2014 nicht verändert. Auch der bloße Zeitablauf führt nicht zu einer Widerlegung der Vermutung. Denn auch bei seiner Verhaftung im Jahr 2013 waren bereits mehr als zehn Jahre seit seinem letzten Aufenthalt in Aserbaidschan vergangen. Vielmehr kommt für den Grad der Verfolgungsgefährdung nunmehr erschwerend hinzu, dass der Kläger zu 1 im Januar 2014 aus dem Gewahrsam der Sicherheitsbehörden geflohen ist und das Land in der Folge illegal verlassen hat.

Der Kläger zu 1 kann keinen wirksamen internen Schutz gem. § 3e AsylG in seinem Herkunftsland erlangen. Die Gefahr einer Festnahme durch staatliche Sicherheitskräfte besteht bereits bei einer möglichen Einreise und sodann landesweit in ganz Aserbaidschan. Staatliche Repressionen sind in den Regionen außerhalb der Hauptstadt tendenziell sogar stärker ausgeprägt als im Großraum Baku (Lagebericht Auswärtiges Amt vom 22.02.2019, S. 13). [...]