VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 03.07.2020 - 1 K 373/18.A (Asylmagazin 9/2020, S. 310) - asyl.net: M28649
https://www.asyl.net/rsdb/M28649
Leitsatz:

Keine Abschiebung international Schutzberechtigter nach Rumänien wegen wirtschaftlicher Folgen der Corona-Pandemie:

Aufgrund der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie haben sich die Lebensbedingungen für international Schutzberechtigte in Rumänien derart verschlechtert, dass im Falle einer Rückführung eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung nach Art. 3 EMRK droht.  

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Rumänien, internationaler Schutz in EU-Staat, Aufnahmebedingungen, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Obdachlosigkeit, Zulässigkeit, Corona-Virus, Arbeitslosigkeit, Unzulässigkeit,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, RL 2013/32 Art. 33,
Auszüge:

[...]

Ausgehend hiervon durfte der Asylantrag des Klägers nicht gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt werden, weil ihm zur Überzeugung der Kammer (§ 108 Abs. 1 S. 1 VwGO) für den Fall seiner Rückkehr nach Rumänien die ernsthafte Gefahr einer erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Grundrechtecharta bzw. Art. 3 EMRK droht. [...]

Auch wenn demnach die Lebensbedingungen für Personen mit internationalem Schutzstatus in Rumänien durchaus prekär sind, ist die Kammer bislang davon ausgegangen, dass nicht derart handgreiflich eklatante Missstände vorliegen, die den Schluss zuließen, diese würden einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung ausgesetzt werden. Vielmehr war den Erkenntnismitteln bislang zu entnehmen, dass anerkannte Schutzberechtigte durch Aushilfstätigkeiten und unter Inanspruchnahme von Hilfemaßnahmen von Nichtregierungsorganisationen (gerade noch) für den eigenen Lebensunterhalt aufkommen können. Dies war deshalb für die Kammer von besonderer Bedeutung, da ein Auskommen mit den von staatlicher Seite zur Verfügung gestellten Mitteln, ohne ein familiäres Netzwerk (insbesondere mietfreies Wohnen), als äußerst problematisch einzuschätzen ist.

Diese Bewertung kann zurzeit nicht mehr aufrechterhalten werden. Die wirtschaftliche Lage in Rumänien hat sich in den letzten Monaten aufgrund der Corona-Pandemie drastisch verändert.

Allein im März ist die Wirtschaftsleistung im mit 19 Millionen Einwohnern größten Land Südosteuropas um 30 % eingebrochen. [...]

Anfang Mai 2020 haben 25.000 Unternehmen ihre Tätigkeit eingestellt oder eingeschränkt, 35.000 Hotel- und Gastronomiebetriebe stehen still, 1.035.585 Arbeitnehmer sind in der betriebsbedingten Arbeitslosigkeit (ausgesetzte Arbeitsverträge) und 250.554 Arbeitnehmer wurden arbeitslos. [...]

Die dargestellte aktuelle wirtschaftliche Lage hat sich derart verfestigt, dass nicht davon auszugehen ist, dass eine wesentliche positive Änderung in naher Zukunft zu erwarten ist.

Auf der Grundlage dieser Informationen geht die Kammer davon aus, dass es einem Schutzberechtigten nur in Ausnahmefällen zeitnah nach seiner Rückkehr gelingen wird, eine entsprechend entlohnte Arbeit zu finden. Die weit überwiegende Zahl der Rückkehrer wird aufgrund der oben beschriebenen steigenden Arbeitslosenzahlen und den weiteren wirtschaftlichen Folgen der Pandemie keine Beschäftigung finden. Dieser Personenkreis wird in der Folge mangels ausreichender staatlicher oder sonstiger Unterstützungsleistungen in eine extrem schwierige Situation geraten. [...]