VG Weimar

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Zitieren als:
VG Weimar, Urteil vom 26.02.2020 - 4 K 21268/17 We (Asylmagazin 10-11/2020, S. 381) - asyl.net: M28726
https://www.asyl.net/rsdb/M28726
Leitsatz:

Erstellung eines Sachverständigengutachtens zum psychischen Gesundheitszustand durch Psychotherapeut*innen möglich; Abschiebungsverbot für psychisch erkrankten Kurden aus dem Irak:

1. Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG i.V.m. § 60a Abs. 2c AufenthG soll eine ein Abschiebungsverbot begründende Krankheit durch ein qualifiziertes ärztliches Attest nachgewiesen werden. Diese Vorschriften regeln jedoch nur die Anforderungen an die von den Betroffenen vorzulegenden Atteste. Es bleibt dem Gericht im Rahmen seiner Sachaufklärungspflicht vorbehalten, ein Sachverständigengutachten zum psychischen Gesundheitszustand durch Psychotherapeut*innen einzuholen, da diese für die Erstellung eines solchen Gutachtens ebenso qualifiziert sein können.

2. Aufgrund der prekären wirtschaftlichen Lage in der Autonomen Region Kurdistan droht einem alleinstehenden jungen Mann ohne familiäres Netzwerk, der aufgrund einer psychischen Erkrankung nur eingeschränkt belastbar ist, eine existenzbedrohende Lage, die den Schweregrad einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung nach Art. 3 EMRK erfüllt.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Psychologe, Psychotherapeut, Sachverständigengutachten, psychische Erkrankung, Posttraumatische Belastungsstörung, Irak, Attest, Nordirak, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Existenzgrundlage, Kurdisches Autonomiegebiet, Kurdistan,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 Satz 2, AufenthG § 60a Abs. 2c, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7, EMRK Art. 3
Auszüge:

[...]

2. Nationale Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG sind jedoch gegeben, so dass der Klage mit dem gestellten Hilfsantrag stattzugeben ist. [...]

Nach Überzeugung des Gerichts steht dies fest aufgrund der übereinstimmenden Einschätzungen der behandelnden Ärzte und dem vorliegenden Gutachten des Dipl.-Psych. ... Schon anlässlich einer Pilotstudie am ... 2018 äußerte der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. ... den dringenden Verdacht einer Posttraumatischen Belastungsstörung, verbunden mit Konzentrationsstörungen, Schlafstörungen und Alpträumen durch ein frühkindliches Bindungstrauma mit Verlust der eigenen Eltern und früher Gewalterfahrung in der Adoptivfamilie. Daraufhin begab sich der Kläger in ärztliche Behandlung. Der Facharzt für Kinder-, Jugend- und Erwachsenenpsychiatrie Dr. ... diagnostizierte am ... 2018 eine posttraumatische Belastungsstörung - PTBS - (ICD 10 F 43. 1) und depressive Reaktion (lCD 10 F 43.2). Die ambulante Behandlung wurde fortgeführt, und mit Stellungnahme vom ... 2019 bestätigte Dr. ... seine Diagnose. Da sich aus den Arztbriefen zwar Ursache und Wirkung der diagnostizierten Krankheiten ableiten ließen, aber nicht erkennen ließ, ob bei fehlender oder unzulänglicher Behandlungsmöglichkeit wesentliche oder lebensbedrohliche Gesundheitsverschlechterungen zu erwarten sind, gab das Gericht mit Beweisbeschluss vorn 23.05.2019 ein Gutachten bei Dipl. Psych. ... in Auftrag.

Soweit die Beklagte der Ansicht ist, dass der Gutachter nicht über die fachliche Qualifikation für ein solches Gutachten verfügt, ist dies zurückzuweisen. Aus den einschlägigen Quellen zur Behandlung der PTBS (vgl. u.a. www.therapie.de/psyche/info/index/therapie/traumatherapie/...) ist ersichtlich, dass in den meisten Fallen eine Psychotherapie die geeignetste Behandlungsmethode ist, die von einem Psychotherapeuten oder psychotherapeutisch tätigen Arzt durchgeführt werden sollte. Schon hieraus ist ersichtlich, dass ein psychiatrisch tätiger Arzt und ein Psychotherapeut als fachlich gleich geeignet angesehen werden. Nach Eigenauskunft von Dipl.-Psych. ... ist er als in einem Arztregister eingetragener Psychotherapeut schon seit mehr als 15 Jahren als Sachverständiger vor Gericht tätig. Eine Bescheinigung der Landesärztekammer Baden-Württemberg über die Teilnahme an einer Fortbildungsveranstaltung zur Begutachtung psychisch reaktiver Traumafolgen liegt vor (Bl. 188 der Gerichtsakte). Im übrigen listet auch ein dem Gericht vorliegendes Schreiben des Präsidenten des Thüringer Landessozialgerichts an den Präsidenten des ThürOVG vom ... 2019 über die Begutachtung bei substantiiert behaupteten abschiebungshindernden psychiatrischen Erkrankungen neben Psychiatern auch Psychotherapeuten als Gutachter auf.

Soweit die Beklagte meint, aus § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG ließe sich ableiten, dass nur ein Arzt befähigt sei, ein Gutachten über psychische Krankheiten und deren Folgen zu erstellen und eine Aufklärung durch das Gericht sei "überobligatorisch", ist dies nicht nachvollziehbar. § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG regeln lediglich die Anforderungen an ein vom Betroffenen vorzulegendes Attest (nicht hingegen an ein Gutachten) hinsichtlich inlandsbezogener Abschiebungshindernisse. Zwar verweist nunmehr auch § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG auf § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG, dies entbindet aber das Gericht nicht von der Sachaufklärungspflicht gem. § 86 Abs. 1 VwGO. Das Gericht ist an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden (§ 86 Abs. 1 Satz 2 VwGO). § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG verweist zudem nicht auf § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG. Eine grundsätzliche Vermutung, dass gesundheitliche Gründe einer Abschiebung nicht entgegenstehen, besteht daher nicht. [...]

Schon für einen physisch und psychisch gesunden jungen Mann ist es bei der wirtschaftlichen Lage in Kurdistan eine Herausforderung, sich eine minimale Existenzgrundlage zu schaffen. Aus den vorliegenden Erkenntnismitteln ergibt sich, dass die humanitäre Lage auch in der Autonomen Region Kurdistan teilweise schwierig ist (so auch VG Oldenburg, Urteil vom 27.02.2018 -, juris, Rdnr. 62, VG Berlin, Urteil vom 25.01.2018 - 29 K 140.17 A -. juris, Rdnr. 48, 49). [...]

Es erscheint daher sehr wahrscheinlich, dass - unabhängig von der vom Gericht ohnehin bejahten Suizidgefahr - der psychisch kranke Kläger ohne familiäre Unterstützung in eine existenzbedrohliche Lage gerät, die den Schweregrad einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gem. Art. 3 EMRK erfüllt. [...]