OVG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 09.07.2020 - 1 LA 120/20 - asyl.net: M28812
https://www.asyl.net/rsdb/M28812
Leitsatz:

Keine Aussetzung einer Dublin-Überstellung allein aufgrund coronabedingter Reisebeschränkungen:

"Eine behördliche Aussetzung der Vollziehung der Überstellungsentscheidung, die ausschließlich auf der tat­sächlichen Unmöglichkeit der Überstellung aufgrund der wegen der COVID-19-Pandemie erlassenen Einreise­beschränkungen beruht, bewegt sich nicht in dem von Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO vorgegebenen Rahmen."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Überstellungsfrist, Aussetzung der Vollziehung, Abschiebungsanordnung, Corona-Virus, Reisebeschränkungen, Berufungszulassungsantrag, Grundsätzliche Bedeutung, Dublin III-Verordnung,
Normen: AsylG § 34a, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, VO 604/2013/EU Art. 29 Abs. 1, VO 604/2013/EU Art. 27 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

6 a) Die Frage, ob das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Vollziehung der Überstellungsentscheidung in Form der Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylG allein aufgrund der durch die COVID- 19-Pandemie ausgelösten tatsächlichen Unmöglichkeit der Abschiebung in Einklang mit Art. 27 Abs. 4 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013, ABl. EU L 180 vom 29. Juni 2013, S. 31; im Folgenden Dublin III-VO) und den sich daraus nach Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO ergebenden Folgen für die Überstellungsfrist aussetzen durfte, kann bereits anhand des Wortlauts des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO und der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung sowie auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens beantwortet werden. [...]

8 Erfolgt die Aussetzungsentscheidung allein aufgrund tatsächlicher Unmöglichkeit – wie sie sich infolge der als Reaktion auf die COVID-19-Pandemie unionsweit erlassenen Einreisebeschränkungen ergibt –, ohne dass dies der rechtlichen Prüfung der Überstellungsentscheidung dient, bewegt sich die Aussetzungsentscheidung nicht in dem von Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO vorgegebenen Rahmen. Die im nationalen Recht vorgesehene Aussetzungsentscheidung (§ 80 Abs. 4 Satz 1 VwGO) kann damit jedenfalls nicht die Aussetzung der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO bewirken.

9 Bereits dem Wortlaut des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO lässt sich mit der Bezugnahme auf den Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung entnehmen, dass mit der mitgliedstaatlichen Aussetzungsentscheidung im Sinne des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO eine rechtliche Prüfung der Überstellungsentscheidung verbunden sein muss. Nach dem Wortlaut bestimmt der Abschluss dieser Prüfung den Zeitpunkt, bis zu dem die Durchführung der Überstellungsentscheidung ausgesetzt werden kann. [...]

13 Dem steht auch die bisherige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urteil vom 08. Januar 2019 – 1 C 16.18 –, juris) nicht entgegen. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht ausgeführt, dass eine behördliche Aussetzungsentscheidung im Sinne des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO auch dann ergehen kann, wenn diese auf sachlich vertretbaren Erwägungen beruht, die den Beschleunigungsgedanken und die Interessen des zuständigen Mitgliedstaats nicht willkürlich verkennen und auch sonst nicht missbräuchlich sind (BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 – 1 C 16.18 –, Rn. 27, juris). Jedoch ist auch in diesen Fällen nach der genannten Rechtsprechung die behördliche Aussetzung nur vor dem Hintergrund des effektiven Rechtsschutzes erlaubt. [...]

15 Sofern die Beklagte und die von der Beklagten in ihrem Berufungszulassungsantrag zitierten verwal - tungsgerichtlichen Entscheidungen (vgl. u. a. VG Gießen, Beschluss vom 8. April 2020 – 6 L 1015/20.GI.A –, Rn. 7, juris) aus der zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ableiten, dass jede sachlich vertretbare, willkürfreie und nicht rechtsmissbräuchlichen Erwägung eine Aussetzung im Sinne des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO stützen kann, verkennen sie, dass auch das Bundesverwaltungsgericht die Aussetzung eben nur vor dem Hintergrund der Gewährung wirksamen Rechtsschutzes erlaubt. [...]

20 Die Beklagte hat im Rahmen der Begründung des Berufungszulassungsantrages deutlich gemacht, dass infolge der COVID-19-Pandemie tatsächliche Abschiebungshindernisse in Gestalt von unionsweit bestehenden Grenzschließungen und Reiseverboten bestünden. Diese Hindernisse hätten sie dazu veranlasst, die Vollziehung der Abschiebungsentscheidung in allen Dublin-Verfahren auszusetzen. Insoweit hat sie deutlich gemacht, dass die Aussetzungsentscheidung allein aufgrund dieser vorübergehenden tatsächlichen Unmöglichkeit der Überstellung getroffen wurde. Sie ist gerade nicht durch eine rechtliche Prüfung der Überstellungsentscheidung, beispielsweise wegen einer unklaren Rechts- oder Tatsachenfrage, veranlasst. Einen Klärungsbedarf hinsichtlich der Voraussetzungen der Überstellungsentscheidung hat sie nicht gesehen. [...]

33 Die Beklagte geht zunächst zutreffend davon aus, dass die Dublin III-VO keine Regelung enthält, die eine Unterbrechung der Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO infolge einer tatsächlichen vorübergehenden Unmöglichkeit der Überstellung aufgrund der durch die COVID-19-Pandemie bedingten (unionsweiten) "faktisch generellen Aussetzung" des Überstellungsvollzugs zulässt. Eine sich kraft Sekundärrechts ergebende Unterbrechung der Überstellungsfrist kommt daher nur dann in Betracht, wenn die von Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO angeordnete Rechtsfolge einer analogen Anwendung auf Fälle der "faktisch generellen Aussetzung" zugänglich ist.

34 Eine analoge Anwendung der von einer Vorschrift angeordneten Rechtsfolge auf Sachverhalte, die von dieser nicht erfasst werden, setzt eine planwidrige Regelungslücke voraus. Das bedeutet, der Anwendungsbereich der Vorschrift muss wegen eines versehentlichen, mit ihrem Zweck unvereinbaren Regelungsversäumnisses unvollständig sein. Eine derartige Lücke darf von den Gerichten im Wege der Analogie geschlossen werden, wenn sich aufgrund der gesamten Umstände feststellen lässt, dass der Normgeber die von ihm angeordnete Rechtsfolge auch auf den nicht erfassten Sachverhalt erstreckt hätte, wenn er diesen bedacht hätte (stRspr BVerwG, vgl. Urteil vom 27. März 2014 – 2 C 2.13 –, Rn. 17, juris).

35 Diese Voraussetzung ist hier nicht gegeben. Es fehlt schon an der Planwidrigkeit der Regelungslücke. Dies ergibt sich aus dem hier bereits mehrfach angesprochenen und das Dublin III-System prägenden Beschleunigungsgedanken (vgl. Erwägungsgrund 5). Die Berücksichtigung dieses Beschleunigungsgedankens führt dazu, dass die Fälle zu begrenzen sind, in denen es wegen eines verzögerten Zuständigkeitsübergangs für die Antragsteller zu einem verspäteten Zugang zum Verfahren und damit zu einer hinausgeschobenen Prüfung der Anträge auf internationalen Schutz kommt. Die Dublin III-VO regelt diese Fälle abschließend. [...]