OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16.11.2020 - 3 N 133/20 - asyl.net: M29027
https://www.asyl.net/rsdb/M29027
Leitsatz:

Zulassung der Berufung zu Auswirkungen pandemiebedingter Aussetzungen von Dublin-Überstellungen:

Die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG in Bezug auf die Frage, "ob die Corona-Pandemie und die hieraus - insbesondere in Form von Aus-/Einreisesperren und der unionsweit faktischen Aussetzung des Dublin-Überstellungsverfahrens - gezeigten Reaktionen in der Europäischen Union das Bundesamt im Sinne des Art. 27 Abs. 3 bzw. 4 Dublin III-VO berechtigen, die Überstellungsentscheidung auszusetzen mit der Folge, dass damit die Überstellungsfrist unterbrochen wurde, d.h. ob die behördlich entsprechend § 80 Abs. 4 VwGO erklärte Vollzugsaussetzung im Sinne der BVerwG-Rechtsprechung (Urteil vom 08.01.2019 - 1 C 16.18 [- Asylmagazin 4/2019, S. 117 f. - asyl.net: M26945]) aufgrund von sachgerechter Erwägung erfolgt ist."

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Corona-Virus, Überstellungsfrist, Berufungszulassung, Aussetzung der Vollziehung, Unterbrechung der Frist, Beschleunigungsgebot, sachliche Gründe,
Normen: AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1, VwGO § 80 Abs. 4, VO 604/2013/EU Art. 27 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

Dies ist hier jedenfalls in Bezug auf die Frage, "ob die Corona-Pandemie und die hierauf - insb. in Form von Aus-/Einreisesperren und der unionsweit faktischen Aussetzung des Dublin-Überstellungsverfahrens - gezeigten Reaktionen in der Europäischen Union das Bundesamt im Sinne des Art. 27 Abs. 3 bzw. 4 Dublin III-VO berechtigen, die Überstellungsentscheidung auszusetzen mit der Folge, dass damit die Überstellungsfrist unterbrochen wurde, d.h. ob die behördlich entsprechend § 80 Abs. 4 VwGO erklärte Vollzugsaussetzung im Sinne der BVerwGRechtsprechung (Urteil vom 8.1.2019 - 1 C 16.18 - juris) aufgrund sachgerechter Erwägungen erfolgt ist," gegeben. Zwar erweckt die Formulierung der Frage auf den ersten Blick den Eindruck, als gehe es hier lediglich um eine bloße Subsumtion unter die von dem Bundesverwaltungsgericht in dem zitierten Urteil aufgestellten Grundsätze. Dies trifft jedoch bei näherer Betrachtung nicht zu. Die Frage zielt letztlich auf eine Klärung ab, ob Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO eine behördliche Aussetzung der Vollziehung einer Abschiebungsanordnung im Dublin-Verfahren rechtfertigt, wenn eine Überstellung aus tatsächlichen - pandemiebedingten - Gründen unmöglich ist.

Auch wenn insoweit einiges dafür sprechen mag, dass Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO eine derartige behördliche Aussetzung nicht ermöglicht (vgl. dazu OVG Lüneburg, Beschluss vom 27. Oktober 2020 - 10 LA 217/20 - juris Rn. 15 ff.; OVG Schleswig, Beschluss vom 9. Juli 2020 - 1 LA 120/20 - juris), ist in einem Berufungsverfahren zu klären, ob sich die Beklagte auf die von ihr angeführte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts berufen kann. Danach soll - wie die Beklagte ausführt - eine behördliche Aussetzungsentscheidung mit Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO konform sein, wenn sie auf sachlich vertretbaren Erwägungen beruht, die nicht rechtlich zwingend sein müssen, und wenn diese Erwägungen den Beschleunigungsgedanken und die Interessen des zuständigen Mitgliedstaates nicht willkürlich verkennen und auch sonst nicht missbräuchlich sind (BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 - 1 C 16.18 - juris Rn. 27).

Die in der obergerichtlichen Rechtsprechung vertretene Ansicht, die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts sei hier nicht einschlägig, weil es nicht um die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung gehe, erscheint danach ebenso problematisch wie die Annahme, dass nach dieser Entscheidung eine Aussetzung allein zur Sicherung eines effektiven Rechtsschutzes zulässig wäre (anders im Berufungszulassungsverfahren OVG Lüneburg, Beschluss vom 27. Oktober 2020 - 10 LA 217/20 - juris Rn. 26 ff.; OVG Schleswig, Beschluss vom 9. Juli 2020 - 1 LA 120/20 - juris Rn. 13 f.). Insoweit hat es das Bundesverwaltungsgericht als "unionsrechtliches Mindesterfordernis" im Sinne von Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO ausreichen lassen, dass lediglich eine Klage gegen die Abschiebungsanordnung anhängig ist, auch wenn diese keine aufschiebende Wirkung hat (BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 - 1 C 16.18 - juris Rn. 29). [...]