VG Leipzig

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Zitieren als:
VG Leipzig, Urteil vom 23.12.2020 - 7 K 644/19.A - asyl.net: M29381
https://www.asyl.net/rsdb/M29381
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für eritreisches Mitglied der Pfingstgemeinde:

Mitgliedern der christlichen Pfingstbewegung in Eritrea aus sogenannten Pente-Gemeinden droht in Eritrea eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung durch staatliche Sicherheitskräfte.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Eritrea, Äthiopien, Staatsangehörigkeit, Freikirche, Pfingstler, Pfingstkirche, religiöse Verfolgung, religiöses Existenzminimum, Religionsgemeinschaft, Religionszugehörigkeit,
Normen: AsylG § 3, AsylG Abs. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

Hieran gemessen ist zunächst festzustellen, dass es zur Überzeugung des Gerichts auf die Umstände in Eritrea ankommt (I.), dass der Kläger eine Vorverfolgung nicht glaubhaft gemacht hat (II.) und dass er bei Rückkehr aufgrund seiner Religionszugehörigkeit Verfolgung zu befürchten hat (III.).

I. Es kommt maßgeblich auf die Verhältnisse in Eritrea an, weil der Kläger zur Überzeugung des Gerichts eritreischer Staatsangehöriger ist. Die Frage, welche Staatsangehörigkeit eine Person innehat, bestimmt sich nach dem Staatsangehörigkeitsrecht des in Frage kommenden Staates, denn Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit werden grundsätzlich durch innerstaatliche Rechtsvorschriften geregelt. Im Rahmen der Prüfung der Staatsangehörigkeit findet der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung Anwendung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Dementsprechend existiert eine Beweisregel des Inhalts, dass der Nachweis der Staatsangehörigkeit eines Staates nur durch Vorlage entsprechender Papiere dieses Staates geführt werden kann, nicht. Es ist nämlich gerade Sinn und Zweck der freien richterlichen Beweiswürdigung, das Gericht nicht an starre Regeln zu binden, sondern ihm zu ermöglichen, den jeweiligen besonderen Umständen des Einzelfalles gerecht zu werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 8. Februar 2005 - 1 C 29.03 -, juris, Rn. 18).

In Eritrea ergibt sich die maßgebliche staatsangehörigkeitsrechtliche Rechtslage aus der Eritreischen Staatsangehörigkeitsverordnung Nr. 21/1992, die nach ihrem Art. 13 am Tag ihrer Veröffentlichung (6. April 1992) in Kraft treten sollte bzw. am 24. Mai 1993, dem Tag der (völkerrechtlich anerkannten) Unabhängigkeitserklärung Eritreas, in Kraft trat. Art. 2 StAG Eritrea 1992 regelt die Staatsangehörigkeit durch Geburt, also nach dem Abstammungsprinzip. Nach Art. 2 Abs. 1 StAG Eritrea 1992 ist jede Person eritreische Staatsangehörige durch Geburt, deren Vater oder Mutter eritreischer Herkunft ist. Auf den Geburtsort kommt es nicht an ("Any person born to a father or a mother of Eritrean origin in Eritrea or abroad is an Eritrean national by birth."). Dies legt nahe, dass die Staatsangehörigkeit Eritreas kraft Gesetzes erworben wird, denn "ist" beschreibt einen Zustand, der hier in der Staatsangehörigkeit besteht, und nicht ein Anrecht auf den Erwerb dieser Staatsangehörigkeit. Eritreischer Herkunft ist nach Art. 2 Abs. 2 StAG Eritrea 1992, wer 1933 in Eritrea, genauer gesagt: auf dem Territorium des heutigen Eritreas, gelebt hat ("A person who has "Eritrean origin" is any person who was resident in Eritrea in 1933."). [...]

Das Gericht ist aufgrund der vorhandenen Erkenntnismitteln, die dem nicht entgegenstehen, sowie der informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung am 14.8.2020 davon überzeugt, dass die Eltern des Klägers am Referendum teilgenommen haben und der Kläger durch seine Geburt nach der Gründung Eritreas die eritreische Staatsangehörigkeit besitzt. Der Kläger befindet sich in der für Flüchtlinge typischen Beweisnot. Er ist selbst als Fünfjähriger ausgereist und hat nie wirklich in Eritrea gelebt. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass der Kläger wenig Tigrinya, dafür aber Amharisch spricht. Es ist auch nachvollziehbar, wenn seine Mutter, die selbst Amharisch und Tigrinya sprechen konnte, ihren Sohn dazu ermutigt hat, Amharisch zu lernen um sich in der äthiopischen Umgebung besser einzufinden. Diese Tatsache widerspricht dem Vortrag, der Kläger sei Eritreer, nicht. Die vorgelegte Taufurkunde belegt weder die eritreische Staatsangehörigkeit noch, dass der Kläger in Eritrea geboren ist. Sie ist allenfalls als Indiz hinzuzuziehen und hat keinen eigenständigen Beweiswert. Daher war eine Ermittlung, ob das Dokument echt ist, nicht angezeigt. Das Gericht hat keinen Grund, den Kläger für unglaubwürdig zu halten. Er hat in der mündlichen Verhandlung weitgehend widerspruchsfrei seine Erlebnisse in Äthiopien geschildert, die auf seine eritreische Abstammung zurückgehen. Seine Probleme bei der Ausreise oder bei der Arbeitsfindung hat der Kläger ebenso glaubhaft dargelegt. Er habe schwer arbeiten können, weil er keine Papiere besessen habe, weil er nicht die äthiopische Staatsangehörigkeit hatte. Dass er studieren konnte, steht hierzu nicht im Widerspruch. Es ist überdies unschädlich, dass seine Eltern 1933 noch nicht auf eritreischem Gebiet gelebt haben. Der Kläger hat zwar nicht angegeben, wann seine Eltern geboren sind. Es ist allerdings mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass seine Eltern 1933 noch nicht lebten. Allerdings habe seine Familie da bereits in der Gegend gewohnt. Es spricht daher einiges dafür, dass die Großeltern des Klägers auf diesem Gebiet 1933 gelebt haben und damit die Eltern des Klägers die eritreische Staatsangehörigkeit erlangt haben und der Kläger diese ebenso durch Abstammung von eritreischen Eltern erlangt hat (vgl. hierzu VG Hannover, Urt. v. 25. Oktober 2017 - 3 A 5931/16 -, Rn. 39, juris). Die eritreische Staatsangehörigkeit wird auch, anders als die Beklagte im Bescheid meint, nicht erst durch Antrag erlangt. Man erlangt die eritreische Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes als Kind eritreischer Eltern (siehe VG Hannover, Urt. v. 25. Oktober 2017 - 3 A 5931/16 -, Rn. 39, juris). Der Kläger hat mitgeteilt, dass auch seine Großeltern in Assab geboren worden sind. Nach dem Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 müssen Vater oder Mutter zwingend selbst "eritreischer Abstammung" i.S.v. Art. 2 Abs. 2 sein bzw. 1933 ihren Aufenthalt in Eritrea gehabt haben, um ihrem Kind die eritreische Staatsangehörigkeit qua Geburt zu vermitteln ("als Kind eines Vaters oder einer Mutter eritreischer Abstammung"). Nach Sinn und Zweck von Art. 2 Abs. 1 und 2 (teleologische Auslegung) muss es jedoch, um einer Person die eritreische Staatsbürgerschaft qua Geburt zu vermitteln, jedenfalls dann, wenn weder deren Vater noch Mutter im Jahre 1933 bereits lebten, auch ausreichen, wenn wiederum Vorfahren von Vater oder Mutter "eritreischer Abstammung" i.S.v. Art. 2 Abs. 2 sind bzw. 1933 ihren Aufenthalt in Eritrea hatten. Die gegenteilige Auffassung würde dazu führen, dass eine Person, deren Elternteile beide erst nach 1933 geboren wurden, niemals eritreischer Staatsangehöriger qua Geburt sein könnte, selbst wenn ihre Großeltern mütter- oder väterlicherseits "eritreischer Abstammung" i.S.v. Art. 2 Abs. 2 sind, weil sie 1933 ihren Aufenthalt in Eritrea hatten. Dies
kann nicht überzeugen (vgl. VG Münster, Urt. v. 22. Juli 2015 - 9 K 3488/13.A -, Rn. 50, juris, m.w.N., dem sich das Gericht anschließt). Es ist also davon auszugeben, dass die Eltern des Klägers am Unabhängigkeitsreferendum teilgenommen haben, der Kläger damit nie die äthiopische Staatsbürgerschaft hatte, sondern nur die eritreische.

II. Der Kläger hat indes keine Vorverfolgung glaubhaft gemacht. Zwar hat er vorgetragen, seine Mutter sei aus Eritrea nach Äthiopien geflohen, weil sein Vater wegen seiner Religionszugehörigkeit umgebracht wurde. Gleichzeitig hat der Kläger aber eine Taufurkunde vorgelegt, nach der er in der Eritreisch-Orthodoxen Kirche getauft worden sei. Als Erklärung hierfür führte er an, dass seine Eltern ihn aus Angst vor Verfolgung in der Orthodoxen Kirche haben taufen lassen. Wie die Verfolgung dann genau ausgesehen hat, ist unklar geblieben. Es ist möglich, dass der Kläger das gar nicht so genau weiß. Oft werden Dinge in Familien verschwiegen, wie wir das auch aus den Geschehnissen des zweiten Weltkrieges kennen (Pakt des Schweigens). Gleichwohl gibt die Erklärung zur Taufurkunde Anlass, an der erlittenen Vorverfolgung zu zweifeln, die im Zweifel ja auch dem Vater des Klägers angediehen wurde und nicht dem Kläger selbst.

III. Allerdings hat der Kläger bei Rückkehr nach Eritrea mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung wegen seiner Religion zu befürchten. Der Kläger ist, ebenso wie seine Familie, Anhänger der Pfingstgemeinde, in Eritrea Pente genannt. Anhänger dieser Religion müssen in Eritrea mit Verfolgung rechnen (1.). Das Gericht ist von der Religionszugehörigkeit des Klägers überzeugt (2.). [...]

Der Kläger behauptet, der Pfingstbewegung anzugehören. Die Pfingstbewegung ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden und gilt als Teil der weiteren evangelikalen Bewegung. Es ist eine vielschichtige Bewegung. Wichtige Glaubenselemente sind die Bekehrung und die Wiedergeburt. Neben den fundamentalen Lehren der Erlösung und der Erwartung der baldigen Wiederkunft Christi stellt das pentekostale Christentum das Wirken des Heiligen Geistes in den Mittelpunkt der Frömmigkeit (Eritrea: Evangelikale und pentekostale Kirchen, Auskunft der SFH-Länderanalyse, Alexandra Geiser, 9.2.2011, S. 2). Anhänger evangelikaler, pentekostaler und charismatischer Kirchen werden heute in Eritrea mit dem abwertenden Begriff "Pente" beschrieben (a.a.O., S. 3). Die Pente-Gemeinden haben sowohl mit der Regierung, als auch mit der Eritreisch-Orthodoxen Kirche (EOC) zu kämpfen. Es herrscht ein konfessioneller Protektionismus vor. Die EOC betrachtet andere christliche Denominationen, insbesondere Pfingstgemeinden, als gefährliche Neuankömmlinge. Christen werden zwangsweise vom Militär eingezogen. Insbesondere Protestanten habe große Probleme, Sozialleistungen vom Staat zu erhalten. Christen, die nicht den traditionellen Kirchen angehören, werden am stärksten durch die Regierung und die EOC verfolgt. Sowohl Christen mit muslimischem Hintergrund als auch Christen, die die EOC verlassen und sich einer protestantischen Freikirche angeschlossen haben, werden von ihren Familien und ihrem Umfeld misshandelt. Sicherheitskräfte der Regierung führten viele Durchsuchungen von Häusern durch und verhafteten hunderte Christen. (Weltverfolgungsindex, Länderprofil Eritrea, ZR: 1. November 2017 bis 31. Oktober 2018, Open Doors, S. 3). Hieraus folgt, dass eine Zugehörigkeit zu einer von der EOC abweichenden Konfession zu staatlicher Verfolgung und auch zur Unmöglichkeit oder Verkomplizierung des Auslebens des Glaubens auch im privaten Bereich führt und damit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei Rückkehr und Glaubensausübung auch nur im privaten Bereich eine Verfolgung droht.

2. Der Kläger hat hinreichend glaubhaft gemacht, dass er einer Freikirche angehört, eine entsprechende Glaubensüberzeugung hat und seinen Glauben auch tatsächlich leben will. [...]