OVG Thüringen

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Zitieren als:
OVG Thüringen, Urteil vom 28.05.2020 - 3 KO 590/13 - asyl.net: M29394
https://www.asyl.net/rsdb/m29394
Leitsatz:

Verfolgung wegen Konversion zum Christentum im Iran nur bei aktivem Praktizieren des neuen Glaubens:

"In Übereinstimmung mit der obergerichtlichen Rechtsprechung kommt es auch nach der Auffassung des Senats auf Grundlage der ausgewerteten Erkenntnisquellen hinsichtlich des Irans für die Frage einer Verfolgungsgefahr wegen Konversion maßgeblich darauf an, ob im Fall einer Rückkehr einer konvertierten Person in den Iran davon auszugehen ist, dass diese ihren neu aufgenommenen Glauben - und die damit verbundene Abkehr vom Islam - aktiv im Iran ausüben wird."

(Auszug aus den amtlichen Leitsätzen; siehe auch: OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 02.03.2022 - 4 LB 785/20 OVG - asyl.net: M30672)

Anmerkung:

Die Entscheidungen der OVG Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen stehen offenbar im Widerspruch zur Rechtsprechung des EuGH und BVerwG, da sie eine unzulässige Unterscheidung zwischen der Ausübung der Religion im privaten und im öffentlichen Bereich machen (vgl. EuGH, Urteil vom 05.09.2012 - C-71/11; C-99/11 Deutschland gg. Y, Z - asyl.net: M19998; BVerwG, Urteile vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 (= ASYLMAGAZIN 5/2013, S. 161 ff.) - asyl.net: M20535 10 C 20.12 - asyl.net: M22159).

Schlagwörter: Iran, Konvertiten, Christen, Apostasie, Taufe, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AsylG 3, AsylG § 3a, AsylG § 15 Abs. 1, EMRK Art 10 Abs. 1, EMRK Art. 14, RL 2011/95 Art. 10,
Auszüge:

[...]

Ein relevanter subjektiver Gesichtspunkt bei der Beurteilung der Größe der dem Betroffenen in seinem Herkunftsland wegen seiner Religion drohenden Gefahr ist, ob ihm die Befolgung einer bestimmten religiösen Praxis in der Öffentlichkeit, die Gegenstand der beanstandeten Einschränkungen ist, zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist. Dies gilt auch, wenn die Befolgung einer solchen religiösen Praxis kein zentraler Bestandteil für die betreffende Glaubensgemeinschaft ist. Aus dem Wortlaut von Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie geht hervor, dass der Schutzbereich sowohl Verhaltensweisen Einzelner oder der Gemeinschaft umfasst, die diese für sich selbst als unverzichtbar empfinden, d.h. "die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen", als auch Verhaltensweisen, die von der Glaubenslehre angeordnet werden, d. h. "nach dieser [Überzeugung] vorgeschrieben sind" (vgl. EuGH, Urteil vom 5. September 2012 - verb. Rs. C-71/11 und C-99/11 - Rn. 70 f.).

Dass die Befolgung einer bestimmten religiösen Praxis zur Wahrung der religiösen Identität besonders wichtig ist, setzt nicht voraus, dass der Betroffene innerlich zerbrechen oder jedenfalls schweren seelischen Schaden nehmen würde, wenn er auf eine entsprechende Glaubenspraxis verzichten müsste. Jedoch muss diese für den Einzelnen ein zentrales Element seiner religiösen Identität und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar sein. Es reicht nicht aus, dass der Asylbewerber eine enge Verbundenheit mit seinem Glauben hat, wenn er diesen - jedenfalls im Aufnahmemitgliedstaat - nicht in einer Weise lebt, die ihn im Herkunftsstaat der Gefahr der Verfolgung aussetzen würde. Maßgeblich für die Schwere der Verletzung der religiösen Identität ist die Intensität des Drucks auf die Willensentscheidung des Betroffenen, seinen Glauben in einer für ihn als verpflichtend empfundenen Weise auszuüben oder hierauf wegen der drohenden Sanktionen zu verzichten. Die Tatsache, dass er die unterdrückte religiöse Betätigung seines Glaubens für sich selbst als verpflichtend empfindet, um seine religiöse Identität zu wahren, muss der Asylbewerber zur vollen Überzeugung des Gerichts nachweisen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 - juris Rn. 30). [...]

Unter Geltung der Qualifikationsrichtlinie ist es dem Glaubenswechsler allerdings nicht zuzumuten, öffentlich praktizierten Riten der Glaubensgemeinschaft fernzubleiben, um staatliche Sanktionen zu vermeiden. Maßgeblich ist, ob sich der Betroffene nach Rückkehr in sein Herkunftsland in einer Art und Weise religiös betätigen wird, die ihn der tatsächlichen Gefahr einer Verfolgung aussetzen wird. Dass er die Gefahr durch Verzicht auf bestimmte religiöse Betätigungen und damit auf den Schutz, den ihm die Richtlinie mit der Anerkennung als Flüchtling garantieren soll, vermeiden könnte, ist grundsätzlich irrelevant (vgl. EuGH, Urteil vom 5. September 2012, - verb. Rs. C-71/11 und C-99/11 -; siehe auch BVerfG, Beschluss vom 19. Dezember 1994 - 2 BvR 1426/91 - DVBl. 1995, 559; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30. Juli 2009 - 5 A 982/07.A - juris). Insofern ist den rechtlichen Ausführungen des Verwaltungsgerichts entgegenzutreten. [...]