VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 24.02.2021 - 5 K 796/19 - asyl.net: M29418
https://www.asyl.net/rsdb/M29418
Leitsatz:

Kein Widerruf des Abschiebungsverbots, wenn interner Schutz vor nichtstaatlicher Verfolgung in Afghanistan noch immer nicht verfügbar ist:

Wurde das Abschiebungsverbot mit der drohenden Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure begründet, vor der ein interner Schutz nicht verfügbar ist, ist ein Widerruf wegen Eintritts der Volljährigkeit nicht gerechtfertigt, weil die Sicherheitslage sich nicht verbessert hat und der afghanische Staat nach wie vor nicht in der Lange ist, verfolgte Personen wirksam vor er Verfolgung durch private Akteure zu schützen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Widerruf, Volljährigkeit, Corona-Virus, Abschiebungsverbot, Änderung der Sach- und Rechtslage, Änderung der Sachlage, interner Schutz, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, nichtstaatliche Verfolgung, Taliban, Iran,
Normen: AsylG § 3e, AsylG § 3c Nr. 3, AsylG § 73c,
Auszüge:

[...]

Die Beklagte hat die seinerzeitige Feststellung eines Abschiebungsverbotes also nicht allein auf die damalige Minderjährigkeit des Klägers als solche sowie seine damals noch mangelnde persönliche Reife, sondern ganz wesentlich auch darauf gestützt, dass ihm in Afghanistan eine erhebliche private Verfolgung droht, vor der ihm dort weder staatlicher noch quasistaatlicher Schutz sowie, auch in Kabul, keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung steht, weil es an einem existenzsichernden aufnahmebereiten Familienverband fehlt, so dass er wegen all dieser Umstände aufgrund seines Alters und seiner individuellen Situation eine besonders schutzwürdige Person ist, zumal er bereits Jahre vor seiner Ausreise nicht mehr in Afghanistan gelebt hat. Daran hat sich indes in wesentlichen Umständen nichts geändert: Denn auch heute noch wäre der Kläger in Afghanistan seitens der, wie er in der mündlichen Verhandlung, zu der die Beklagte nicht erschienen ist, plausibel und widerspruchsfrei und damit glaubhaft ausgeführt hat, dorthin zurückgekehrten Familie seines ertrunkenen Freundes ernstlich von privater Verfolgung bedroht. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass der inzwischen volljährige und womöglich als wohlhabender "Westler" geltende Kläger inzwischen erst recht der Gefahr von Blutgeldforderungen und/oder der Blutrache ausgesetzt wäre. Ebenso würde es auch weiterhin, wie es der Bundesamtsbescheid vom 03.11.2011 formuliert hat, in Afghanistan, auch in Kabul, an einem aufnahmebereiten Familienverband fehlen, der für seine Existenzsicherung sorgen könnte. Vielmehr gilt dies heute noch umso mehr, als die Voraussetzungen einer Existenzsicherung sich, wie noch auszuführen sein wird, mit Blick auf die auch in Afghanistan grassierende Corona-Pandemie und deren dortigen gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen zumindest nicht zum Besseren gewandelt haben. Darüber hinaus ist der inzwischen 27 Jahre alte Kläger nach wie vor bereits als Kind im Alter von acht bzw. neun Jahren aus Afghanistan ausgereist, so dass er weiterhin mit den dortigen Lebensverhältnissen nicht mehr vertraut ist; dies gilt sogar erst recht, nachdem der im April 2011 im Alter von seinerzeit 17 Jahren eingereiste Kläger inzwischen seit nahezu zehn Jahren in Deutschland und seit ca. 18 Jahren nicht mehr in Afghanistan lebt, die deutsche Sprache erlernt, einen bedeutenden Abschnitt seiner Persönlichkeitsentwicklung in der Bundesrepublik verbracht und sich dabei beruflich und privat erfolgreich in die deutsche und westliche Kultur integriert hat.

Des Weiteren stünde dem Kläger in Afghanistan auch heute noch kein adäquater staatlicher oder quasistaatlicher Schutz vor der nach dem überzeugend begründeten und überdies bestandskräftigen Bescheid der Beklagten vom 03.11.2011 als glaubhaft zugrunde zu legenden Gefahr einer privaten Verfolgung zur Verfügung, und zwar auch nicht in Kabul, so dass es entgegen der Auffassung der Beklagten im angefochtenen Widerrufsbescheid vorliegend auch an einer inländischen Fluchtalternative fehlt. Afghanistan ist etwa nach dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes durch eine anhaltend komplexe Sicherheitslage geprägt, die Elemente terroristischer Gewalt ebenso einschließt wie organisierte Kriminalität. Das Bundesverfassungsgericht spricht in Bezug auf Afghanistan gleichfalls von einem Land, das ,aufgrund der Dynamik des dort herrschenden Konflikts von einer äußerst volatilen und zudem regional sehr unterschiedlichen Sicherheitslage geprägt ist und in dem wegen einer stetigen Verschlechterung der Sicherheitslage in den letzten zwei Jahren die Gefahr besteht, dass die Schwelle des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG überschritten sein könnte " (Kammerbeschluss vom 25.04.2018 - 2 BvR 2435/17 -, juris, Ls. 3 und Rn. 34).

Nach der Auskunftslage kann in Afghanistan von bewaffneten Gruppierungen eine nichtstaatliche Verfolgung im Verständnis von § 3c Nr. 3 AsylG ausgehen, der gegenüber der afghanische Staat nicht zur entsprechenden Schutzgewährung in der Lage ist. So sind etwa die Taliban eine Organisation, die einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets, insbesondere Teile von Süd- und Ostafghanistan, gewissermaßen beherrscht; in mehreren Provinzen übt zudem der IS (ISKP) die Kontrolle aus (bzw. wird diese von sich zum IS bekennenden Gruppen ausgeübt). Jedenfalls sind diese bewaffneten Gruppierungen als nichtstaatliche Akteure im Sinne von Art. 6 Anerkennungsrichtlinie zu qualifizieren, gegen die derzeit weder der afghanische Staat noch internationale Organisationen in der Lage sind, hinreichenden Schutz vor Verfolgung bzw. ernsthaftem Schaden zu bieten. Insbesondere muss Schutz vor Verfolgung wirksam und darf dieser nicht nur vorübergehender Art sein, wie sich aus § 3d Abs. 2 Satz 1 AsylG und Art. 7 Abs. 2 Satz 1 Anerkennungsrichtlinie ergibt. Demgegenüber lässt sich die gegenwärtige militärische Lage nach Einschätzung der NATO als Patt bezeichnen.24 Der afghanische Staat ist unter diesen Umständen hier nicht zur entsprechenden Schutzgewährung in der Lage. Zur Schutzwilligkeit und Schutzfähigkeit der afghanischen Sicherheitsbehörden heißt es etwa allgemein im "Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage" der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 30.09.2013 (Seite 15):

"Die schwache Regierungsführung, verbreitete Korruption sowie die Tatsache, dass diejenigen Akteure, welche den Schutz der Zivilbevölkerung gewährleisten sollen, selber immer wieder Menschenrechtsverletzungen begehen und dafür mit Straffreiheit ausgehen, unterminieren die Schutzfähigkeit der afghanischen Regierung. Zudem kann die Polizei in weiten Teilen des Landes nicht auf ein funktionierendes Justizsystem zurückgreifen und wird in zahlreichen Fällen von der Regierung nicht unterstützt. Weiter wird die Schutzfähigkeit des afghanischen Staates durch die schlechte Sicherheitslage stark eingeschränkt. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, etwa von regierungsfeindlichen Gruppierungen illegal ausgeführte menschenrechtsverachtende "Strafen" strafrechtlich zu verfolgen."

Auch das Auswärtige Amt bestätigt in einer Auskunft an das Bundesamt der Beklagten vom 08.11.2016, dass der Zugriff der afghanischen Sicherheitsbehörden "nur sehr begrenzt" ist. Näher ist in einem umfangreichen Gutachten von F. Stahlmann an das VG Wiesbaden vom 28.03.2018 (Az. 7 K 1757/16.WI.A) in dem von einem "kriminalitäts- und kriegsbedingt hohen Gewaltniveau" (dort S. 136) berichtet sowie eine "mangelnde Kapazität und Kompetenz der Polizei zum Schutz der öffentlichen Ordnung« (dort S. 139) konstatiert wird, ausgeführt (dort S. 134):

"So müssen auch Polizeikräfte als aktive Kriegspartei selbst einen immensen Aufwand zur Eigensicherung betreiben, was ihre Fähigkeit zu klassischer Polizeiarbeit meist deutlich einschränkt. Sie erhalten aufgrund der vielen Gefahren, welche die staatlichen Sicherheitskräfte für die Zivilbevölkerung bergen, und der spezifischen Reputation der Polizei oft jedoch auch keine Unterstützung aus der Bevölkerung. Viele haben zudem keinerlei Ausbildung, die sie zu einer rechtsstaatlich gedeckten Wahrung der öffentlichen Ordnung qualifizieren würden. Die Kombination aus mangelnder Akzeptanz, fehlender Qualifikation und Korruption macht die Polizei zu einem unzuverlässigen bis unbrauchbaren Partner in der Durchsetzung gerichtlicher Autorität ...". [...]

Nach ständiger Rechtsprechung der Kammer bietet - in Abhängigkeit von den Umständen des Einzelfalls - ggf. auch die Hauptstadt Kabul keinen dauerhaften internen Schutz im Verständnis von § 3e AsylG bzw. Art. 8 AR (vgl. nur Urteile vom 01.03.2019 - 5 K 267/17 und 357/17 -, 03.08.2018 - 5 K 1377/16 -, 12.07.2018 - 5 K 1339/16 -, 30.05.2018 - 5 K 1199/16 und 1262/16 - sowie vom 29.01.2018 - 5 K 1398/16 und 5 K 1360/16 -; vgl. auch Urteile der Kammer vom 11.05.2016 - 5 K 61/15 -, 06.05.2015 - 5 K 2100/14 -, 03.09.2014 - 5 K 391/14 - und 20.08.2014 - 5 K 60/14 -). Dies gilt unter Zugrundelegung der im ursprünglichen Bescheid vom 03.11.2011 dargelegten Gefahren zur Überzeugung des Gerichts fallbezogen auch für den Kläger. Aufgrund des Umstandes, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan einer privaten Verfolgungsgefährdung seitens einer offenbar den Taliban nahestehenden Familie ausgesetzt wäre, ist davon auszugehen, dass er früher oder später auch in Kabul entdeckt und bedroht würde. Dies ist hier auch für die anderen größeren Städte wie Herat oder Mazar-e Sharif sowie die afghanischen Provinzen anzunehmen. Dabei kommt es im Übrigen auf die Frage, ob dem Kläger im Zeitpunkt seiner Ausreise eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung gestanden hätte, nicht mehr an; denn im Rahmen der Flüchtlingsanerkennung bzw. des subsidiären Schutzes kann - anders als im Rahmen des Asylrechts nach Art. 16a GG - eine Verfolgung nicht allein wegen einer zum Zeitpunkt der Ausreise bestehenden Fluchtalternative in einem anderen Teil des Herkunftsstaates verneint werden, sofern diese nicht zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Flüchtlingsanerkennung unverändert fortbesteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 - 10 C 52/07 -, juris, Rn. 29, m.w.N.; OVG des Saarlandes, Urteil vom 18.01.2018 - 2 A 287/17 -, juris; vgl. auch Marx, AsylG, a.a.O., § 3e Rn. 1). [...]