VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 02.03.2020 - 15 K 2516/19 - asyl.net: M29449
https://www.asyl.net/rsdb/M29449
Leitsatz:

BAföG-Anspruch bei Zweitstudium nach Flucht:

1. Ist eine Person zur Flucht gezwungen und muss deshalb ein im Herkunftsland begonnenes Studium aufgeben, so stellt sich die Aufgabe des Studiums als Abbruch aus unabweisbarem Grund im Sinne von § 7 Abs. 3 BAföG dar. 

2. Vorausgesetzt auch die weiteren Bedingungen sind erfüllt, besteht daher ein Anspruch auf BAFöG-Leistungen für ein neues Studium auch in einer anderen Fachrichtung.

(Leitsätze der Redaktion; vgl. VG Potsdam, Beschluss vom 25.07.2019 - 7 L 339/19 - asyl.net: M27512)

Schlagwörter: Ausbildungsförderung, Studium, Fachrichtungswechsel, Wechsel des Studienfachs, Abbruch, Abbruch des Studiums, Flucht, unabweisbarer Grund, international Schutzberechtigte, subsidiärer Schutz, Flüchtlingsanerkennung, internationaler Schutz,
Normen: BAföG § 7 Abs. 3 S. 1 Nr. 2, BAföG § 17 Abs. 3 S. 2,
Auszüge:

[…]

Dem Anspruch des Klägers auf Ausbildungsförderung für den Bewilligungszeitraum vom 1. Oktober 2018 bis 30. September 2019 für den Studiengang der romanischen Philologie (spanisch) und Orientalistik - Islamwissenschaften (B.A.) an der ... steht die Regelung des § 7 Abs. 3 Sätze 1 und 3 BAföG nicht entgegen.

Danach wird Ausbildungsförderung nach einem Abbruch der Ausbildung oder einem Fachrichtungswechsel nur geleistet, wenn der Abbruch oder Fachrichtungswechsel aus wichtigem Grund (Nr. 1) oder aus unabweisbarem Grund (Nr. 2) erfolgt ist. […]

Der Kläger hat sein Studium an der ...-Universität aus unabweisbarem Grund im Sinne von § 7 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BAföG abgebrochen. […]

Dies ist nach der Vorstellung zu beurteilen, die der Auszubildende bei Ausführung des Entschlusses hat. […]

Maßgeblich ist die nach außen erkennbare Vorstellung des Auszubildenden. […]

Ausgehend von diesen Maßgaben hat der Kläger in dem für diese Frage entscheidungserheblichen Zeitpunkt der Ausreise aus Syrien nach seiner Exmatrikulation im Oktober 2015 nach seiner Vorstellung, sein Studium in Syrien und den Besuch von Ausbildungsstätten derselben Ausbildungsstättenart wie der ...-Universität endgültig aufgegeben, um sich außerhalb Syriens in Sicherheit zu bringen.

Ist die Fortführung eines Studiums im Zeitpunkt der Ausreise aus dem Herkunftsstaat noch völlig offen, stellt die Aufgabe des Studiums im Herkunftsstaat einen Abbruch dar. […]

Die Aufgabe des Studiums in Syrien zwecks Flucht stellt sich als Abbruch dar und nicht als Fachrichtungswechsel. Im Zeitpunkt der Ausreise war für den Kläger völlig offen, in welchem Land er ankommen wird; sollte er beabsichtigt haben, in die Bundesrepublik Deutschland einzureisen, wohin er nach seiner Ankunft nach Maßgabe der §§ 44 bis 54 des Asylgesetzes verteilt wird und ob er dort - nach Erwerb u.a. der erforderlichen sprachlichen Voraussetzungen - studieren kann. Überlegungen zur Fortführung (s)eines Studiums standen zum Zeitpunkt der Ausreise aus Syrien für das Gericht nachvollziehbar nicht an.

Der Abbruch des-in Syrien betriebenen Studiums wird auch nicht dadurch zu einem Fachrichtungswechsel, dass er nach Erhalt des Aufenthaltstitels Sprachkurse belegt und nach Erwerb der sprachenbezogenen Zugangsberechtigung ein Studium aufgenommen hat.

Das gilt in gleicher Weise für die Beurteilung, ob der Auszubildende sich auf einen unabweisbaren Grund berufen kann. Ein Grund ist nur dann unabweisbar, wenn Umstände eintreten, die die Fortführung der bisherigen Ausbildung objektiv und subjektiv unmöglich machen. Zutreffend umschreibt auch Tz. 7.3.16a der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföGVwV) diese Voraussetzungen. Danach ist ein Grund unabweisbar, der die Wahl zwischen der Fortsetzung der bisherigen Ausbildung und ihrem Abbruch oder dem Überwechseln in eine andere Fachrichtung nicht zulässt. Das in dieser Verwaltungsvorschrift angeführte Beispiel für die Anerkennung eines Grundes als unabweisbar, nämlich eine unerwartete - etwa als Unfallfolge eingetretene - Behinderung, welche die Ausübung des bisher angestrebten Berufs unmöglich macht, macht zutreffend deutlich, dass nur solche Umstände berücksichtigt werden können, die zu einem Wegfall der Eignung des Auszubildenden für die künftige Ausübung des bisher angestrebten Berufs und die dahin zielende noch zu absolvierende Ausbildung geführt haben (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. April1 981 - 5 C 36.79 -, juris, Rn. 26, unter Heranziehung der Tz. 17.3.4 BaföGVwV a.F.).

An diesen Maßstäben gemessen hat der Kläger sein Studium der ... an der ...-Universität in ..., Syrien, im Oktober 2015 aus unabweisbarem Grund aufgegeben. Die Umstände, die die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus im Sinne des § 4 Abs. 1 Asylgesetz tragen, haben eine Wahl des Klägers zwischen der Fortsetzung seines Studiums in Syrien und dessen Abbruch nicht zugelassen. Die Fortführung seines Studiums in …, Syrien war ihm danach objektiv und subjektiv unmöglich.

Das Argument des Beklagten, ausbildungsförderungs- und rechtspolitisch stelle dieses Ergebnis einen Freifahrtschein für Asyl- und international Schutzberechtigte für einen förderungrechtlichen Neustart dar, der inländisch Studierenden nicht zustehe, trägt nicht und ist unzutreffend. Dieses Ergebnis ist schlicht die gesetzlich vorgesehene Folge bei Vorliegen eines unabweisbaren Grundes. Auch bisher können inländische Studierende nach einem Abbruch ihres Studiums aus wichtigem oder sofern erforderlich unabweisbarem Grund bei späterer Revidierung ihres Entschlusses und Aufnahme eines weiteren anderen Studiums Ausbildungsförderung nach Maßgabe des § 7 Abs. 3 BAföG erhalten.

Soweit diese gesetzlichen Vorgaben zu unterschiedlichen Ergebnissen zwischen einerseits einem Abbruch und zeitlich nachfolgender (Wieder-}Aufnahme eines Studiums und andererseits einem schon bei "Aufgabe" des früheren Studiums anvisierten Fachrichtungswechsels führen (können), entspricht auch dies der Anwendung der gesetzlichen Regelungen. […]