VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 02.03.2021 - 35 L 31/21 A - asyl.net: M29507
https://www.asyl.net/rsdb/M29507
Leitsatz:

Kein Ablehnung als offensichtlich unbegründet bei möglichem Familienschutz:

1. Bei einem Offensichtlichkeitsurteil nach § 30 AsylG darf auch ein möglicherweise abzuleitender Anspruch auf Familienschutz nach § 26 AsylG offensichtlich nicht vorliegen. Diese Voraussetzung ist nicht gegeben, wenn der Asylantrag einer Referenzperson "einfach" unbegründet abgelehnt wurde und gegen diese Entscheidung ein Klageverfahren anhängig ist.

2. Ein Verweis auf die Möglichkeit eines Folgeantrags für den Fall, dass die Referenzperson internationalen Schutz erhält sowie auf das Vorliegen von Duldungsgründen entspricht nicht den Erfordernissen des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG (entgegen VG Berlin, Beschluss vom 04.06.2020 - 33 L 182/20 A - asyl.net: M28536).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: offensichtlich unbegründet, Familienschutz, Duldung, Asylfolgeantrag,
Normen: AsylG § 30, AsylG § 26, GG Art. 19 Abs. 4,
Auszüge:

[…]

Das Offensichtlichkeitsurteil gemäß § 30 AsylG muss den gesamten Asylantrag erfassen, so dass bei einer Antragsablehnung gegenüber einem einzelnen Betroffenen als offensichtlich unbegründet auch der Tatbestand eines von einem Familienmitglied möglicherweise abzuleitenden Anspruchs auf Asylanerkennung, auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und/oder auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 26 AsylG in den Blick zu nehmen ist. Der Tatbestand des § 26 AsylG darf dabei ebenfalls qualifiziert, d.h. offensichtlich nicht vorliegen, da bei einer Ablehnung als offensichtlich unbegründet das Evidenzverdikt über den gesamten Asylantrag fallen muss.·Nur wenn Familienasyl ebenfalls ohne weiteres versagt werden muss, ist der Asylantrag insgesamt eindeutig aussichtslos. Daraus folgt, dass ein Asylantrag grundsätzlich nur dann offensichtlich unbegründet sein kann, wenn entweder der eigene Asylantrag der Bezugsperson bereits qualifiziert oder zwar einfach, aber bestandskräftig abgelehnt worden ist. Abweichend von diesem Grundsatz kann das Verdikt der offensichtlichen Unbegründetheit im Einzelfall gerechtfertigt sein, wenn nach der Aktenlage sicher beurteilt werden kann, dass ein Anspruch weiterer Familienmitglieder auf Anerkennung als Asylberechtigte oder auf Zuerkennung internationalen Schutzes ebenso offensichtlich ausscheidet (vgl. VG Gießen, Beschluss vom 14. Januar·2000·- 5 G 3112/99.A - juris, VG Magdeburg, Urteil vom 4. Juli 2016 - 3 A 199/15 – Rn. 21, juris, VG Würzburg, a.a.O., Rn. 21 f. m.w.N.; VG Berlin, Beschluss vom 22. April 2020 . VG 33 L·166/20 A; Bergmann, a.a.O., § 30 AsylG, Rn. 7; BeckOK AuslR/Heusch, 26. Ed., 1. Juli 2020, § 30·AsylG, Rn. 11 m.w.N.; a.A. allerdings: VG Berlin, Beschluss vom 4. Juni 2020 - VG 33 L 164/20 A - Rn. 13 ff., juris).

Nachdem vorliegend der Antrag der Mutter des Antragstellers mit Bescheid vom 18. Januar 2021 "einfach" unbegründet abgelehnt und gegen diese Entscheidung fristgerecht Klage - VG 35 K 25/21 A – erhoben wurde, über welche noch nicht entschieden ist, besteht jedenfalls zum jetzigen Zeltpunkt die Möglichkeit, dass bei dem Antragsteller die Voraussetzungen des § 26 AsylG in Betracht kommen. Ob dies tatsächlich der Fall ist, erscheint als offen und kann erst nach Entscheidung über die anhängige Klage im Verfahren der Mutter festgestellt werden. Dasselbe Ergebnis folgt aus dem Umstand, dass das Bundesamt über den Asylantrag des Vaters des Antragstellers noch nicht entschieden hat (vgl. VG -35 K·15/21 A und VG 35 L 14/21 A).

c) Nichts anderes folgt daraus, dass gegen die vorliegend vertretene rechtliche Auffassung teilweise eingewandt wird; es sei nichts dafür ersichtlich, was es erforderlich erscheinen lasse, dass der Asylantrag einer Referenzperson ebenfalls als offensichtlich unbegründet oder bestandskräftig abgelehnt worden sein muss, damit auch ein Asylantrag des Angehörigen der Kernfamilie als offensichtlich unbegründet abgelehnt werden könne. Insbesondere sei eine zukünftige Zuerkennung internationalen Schutzes über die Vorschriften des Familienasyls nicht ausgeschlossen. Ein Familienangehöriger könne einen Folgeantrag stellen, wenn der Referenzperson zukünftig internationaler Schutz zuerkannt werde. Die sofortige Vollziehbarkeit der Abschiebungsandrohung bewirke keine unmittelbare Trennung der Familie. Vielmehr sei eine solche durch die Ausländerbehörde im Rahmen der Vollziehung zu berücksichtigen (s. VG, Berlin, Beschluss vom 4. Juni 2020·- VG 33 L 164/20.A, Rn. 15, juris).

Diese Einschätzung vermag die Einzelrichterin im Hinblick auf das besondere Gewicht des Grundrechts des Antragstellers auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG, der in besonderer Weise der Sicherung grundrechtlicher Freiheiten dient, nicht zu teilen (vgl. zum Grundsatz der Effektivität des Rechtsschutzes: BVerfG, Kammerbeschluss vom 10. Juni 2020, 2 BvR 297/20, Rn. 11 ff., juris, VG Berlin. Beschluss vom 20 . Oktober 2020 - VG 35 L 342/20 A -). Es erscheint bedenklich, den Antragsteller in der oben beschriebenen Situation auf mögliche Folgeverfahren oder etwaige Duldungsgründe in ausländerrechtlichen Verfahren zu verweisen, die von der zuständigen Ausländerbehörde zu berücksichtigen seien. Hieraus können sich Nachteile, insbesondere prozessuale Risiken, für den Antragsteller ergeben. [...]