VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 24.07.2002 - 2 B 98.34950 - asyl.net: M3163
https://www.asyl.net/rsdb/M3163
Leitsatz:

Zur Gefährdung von Uiguren bei Rückkehr nach China wegen exilpolitischer Betätigung.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: China, Uiguren, Ostturkestanische Volksrevolutionäre Partei, Sympathisanten, Subjektive Nachfluchtgründe, Nachfluchtgründe, Exilpolitische Betätigung, Ostturkestanische Union in Europa e.V., Uigurischer Jugendkongress, Weltkongress der Uigurischen Jugend, Ostturkestanischer Nationalkongress, Demonstrationen, Publikationen, Zeitschriften, Internet, Überwachung im Aufnahmeland, Illegale Ausreise, Antragstellung als Asylgrund, Separatismus, Strafverfolgung, Politmalus
Normen: AuslG § 51 Abs. 1
Auszüge:

Die Beigeladene erfüllt nach der im Entscheidungszeitpunkt bestehenden Sach- und Rechtslage (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) die Voraussetzungen für die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG nicht. Sie ist im Falle einer Rückkehr nach China weder heute noch in absehbarer Zeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit den dort bezeichneten Gefahren ausgesetzt.

Ob eine derartige Bedrohung vorliegt, ist für unverfolgt aus ihrem Heimatstaat ausgereiste Schutzsuchende im Abschiebungsschutzverfahren des § 51 Abs. 1 AuslG - ebenso wie im Asylanerkennungsverfahren - nach dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu beurteilen (vgl. BVerwGE 91,150/154 m.w.N.).

Dieser Prognosemaßstab kommt hier zur Anwendung, da nach dem insoweit rechtskräftigen Urteil des Verwaltungsgerichts Vorverfolgung ausscheidet und die Beigeladene dies nicht angreift. Daher hat sich die Berufung nur mit der Frage zu befassen, ob der Beigeladenen wegen ihrer Nachfluchtaktivitäten in der Bundesrepublik Deutschland, das sind die Mitgliedschaft in der Ostturkestanischen Union in Europa e.V. sowie ihre Teilnahme an drei Demonstrationen im (...) sowie im (...), Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG zu gewähren ist. Das ist zu verneinen.

Bei einer zusammenfassenden Würdigung der Ergebnisse der Beweisaufnahme und der sonstigen in das Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen gelangt der Verwaltungsgerichtshof zu folgender Einschätzung: Chinesischen Staatsangehörigen uigurischer Volkszugehörigkeit, die unverfolgt aus China ausgereist sind, droht wegen exilpolitischer Aktivitäten in der Bundesrepublik Deutschland - für sich genommen oder in Verbindung mit einem Verstoß gegen Ausreisebestimmungen und der Stellung eines Asylantrags - bei einer Rückkehr nach China nicht generell mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung. Exilpolitische Aktivitäten, wie z.B. die Mitgliedschaft in einer Exilorganisation, die Teilnahme an Demonstrationen gegen das Regime oder die Mitwirkung an regimekritischen Presseerzeugnissen, sind bei Asylbewerbern bestimmter Herkunftsländer durchaus üblich geworden, um das Asylbegehren zu stützen; ein solches Verhalten reicht nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs regelmäßig nicht aus, um die Gefahr politischer Verfolgung zu begründen (vgl. zu China: Beschluss vom 9.8.1995 - 2 BA 95.32963; zu Vietnam: Urteil vom 4.6.1998 - 8 B 97. 30348; zum Iran: Urteil vom 10.10.2001 - 19 B 96.32758; zu Kuba: Urteil vom 18.5.1999 - 7 B 99.30163; zu Togo: Urteil vom 30.3.1999 - 25 BA 95.34283).

Für chinesische Asylbewerber uigurischer Volkszugehörigkeit gilt vom Ansatz her nichts anderes. Es besteht keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass der chinesische Staat ein Verhalten, das in der chinesischen Öffentlichkeit unbemerkt bleibt und das auch in der Bundesrepublik Deutschland nur geringe Aufmerksamkeit erregt und ersichtlich darauf angelegt ist, das laufende Asylverfahren positiv zu beeinflussen, zum Anlaß nimmt, den Betroffenen bei seiner Rückkehr nach China exemplarisch zu bestrafen. Die (schlichte) Mitgliedschaft in einer uigurischen Exilorganisation, wie z.B. der Ostturkestanischen Union in Europa e. V., dem Uigurischen Jugendkongress, dem Weltkongress der Uigurischen Jugend, dem Eastern Turkestanischen Zentrum oder dem Ostturkestanischen Nationalkongress, oder die üblich gewordenen Betätigungen für eine dieser Organisationen, wie z.B. die Teilnahme an Demonstrationen oder regimekritische Äußerungen in Exilpublikationen, reichen daher hierfür nicht aus. Exilpolitische Betätigungen können allenfalls dann eine beachtlich wahrscheinliche Verfolgungsgefahr begründen, wenn die regimekritischen Aktivitäten das übliche Maß so deutlich übersteigen, dass der Asylbewerber sich dadurch in besonderer Weise persönlich exponiert und damit deutlich wird, dass die Aktivitäten sich nicht lediglich in Mitläufertum zur Stützung des Asylantrags erschöpfen, sondern Ausdruck einer ernsthaften politischen Überzeugung sind.

Für diese Einschätzung sind folgende Erwägungen maßgebend:

Zwar kann die Betätigung für die Ostturkestanische Union in Europa oder eine andere uirgurische Exilorganisation, z.B. die Teilnahme an einer Demonstration gegen die derzeitigen Verhältnisse in Xinjiang, nach überwiegender Einschätzung der vom Senat befragten Gutachter einen Straftatbestand nach § 103 chin.StGB erfüllen, so dass eine entsprechende Strafverfolgung bei der Rückkehr solcher Personen nach China nicht ausgeschlossen werden kann. Nach den insoweit übereinstimmenden Aussagen aller im Rahmen der Beweisaufnahme hierzu befragten Gutachter liegen jedoch keine Erkenntnisse darüber vor, ob und gegebenenfalls in welchem Ausmaß die Teilnahme an Demonstrationen im Ausland - auch vor chinesischen Auslandsvertretungen - für sich allein oder in Verbindung etwa mit "illegaler Ausreise" oder der Asylantragstellung - bei einer Rückkehr zu Repressalien führen. Den Auskünften des Auswärtigen Amtes, von amnesty international und (...) kann aber entnommen werden, dass die bloße formelle Mitgliedschaft in einer Exilorganisation nicht entscheidend ist, sondern die Wahrscheinlichkeit einer Gefährdung von der Art der Tätigkeit des Asylbewerbers in einer solchen Organisation abhängt. Nach Aussage von amnesty international ist nur bei führenden Beteiligten mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen. Von einer "führenden Beteiligung" in diesem Sinne kann aber bei schlichter Teilnahme an Demonstrationen - mag dabei auch vom Asylbewerber ein Transparent bzw. ein Plakat getragen werden - nicht die Rede sein. Ein solcher Beitrag ist zwar noch individualisierbar, tritt aber hinter den zahllosen deckungsgleichen Beiträgen anderer Personen zurück. Derartige Aktivitäten sind ein Massenphänomen, bei dem die Beteiligten ganz überwiegend nur die Kulisse abgeben für die eigentlich agierenden Wortführer.

Unter Berücksichtigung der besonderen Situation der uigurischen Minderheit in China, die im Vergleich mit Han-Chinesen mit einem Politmalus rechnen müssen (vgl. (...), Gutachten vom November 1998), und des Umstandes, dass die seit jeher bestehende hohe Empfindlichkeit des chinesischen Staates gegenüber autonomistischen und separatistischen Bewegungen seit dem 11. September 2001 noch eine Steigerung erfahren hat, ist bei uigurischen Volkszugehörigen ein weniger strenger Maßstab hinsichtlich der Frage anzulegen, welches Profil die exilpolitische Betätigung haben muss, um ein beachtlich wahrscheinliches Verfolgungsrisiko für Rückkehrer zu begründen. Der für die Bewertung exilpolitischer Tätigkeiten von Han-Chinesen angelegte Maßstab der "herausragenden Mitgliedschaft" ist bei diesem Personenkreis nicht zu fordern (s. (...), Gutachten vom November 1998). Allerdings ist auch bei Uiguren nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass jedwede exilpolitische Aktivität zu einer asylrelevanten politischen Verfolgung führen wird. So kommt es nach dem jüngsten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7. August 2001 (Stand Juni 2001) aus Sicht der chinesischen Regierung vor allem auf die Gefährlichkeit oder Unbequemlichkeit der einzelnen Person für die Regierung und/oder die kommunistische Partei an. Angesichts der Intensität der Überwachung der exilpolitischen Betätigung von Asylbewerbern durch die chinesischen Dienststellen in der Bundesrepublik Deutschland, die eine Infiltration exilpolitischer Organisationen einschließt (vgl. (...), Gutachten vom November 1998), ist davon auszugehen, dass den chinesischen Stellen eine Unterscheidung zwischen dem Personenkreis der ernsthaften "Separatisten" einerseits und bloßen Mitläufern andererseits ohne besondere Schwierigkeiten möglich ist. Dies hat zur Folge, dass die beachtliche Wahrscheinlichkeit von Strafverfolgung in dem Maße abnimmt, in dem erkennbar ist, dass ein ernsthaftes politisches Engagement nicht vorliegt, sondern eher asyltaktische Ziele verfolgt werden (vgl. BVerwG vom 7.1.2000 Az. 9 B 600/992).

Bei Anwendung dieser Grundsätze ist im Falle der Beigeladenen nicht mit einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit von einer politischen Verfolgung bei einer Rückkehr nach China auszugehen. Eine "führende Beteiligte" im dargelegten Sinne ist die Beigeladene nicht. Eine separatistische Betätigung mit gewissem Gewicht liegt bei der Beigeladenen nicht vor. Die von ihr unternommenen Aktivitäten blieben völlig ohne Substanz. Darüber hinaus liegt die exilpolitische Betätigung der Beigeladenen inzwischen über vier Jahre zurück. Angesichts dessen ist - unabhängig vom geringen Gewicht dieser Aktivitäten - ein aktuelles, (fort- )bestehendes Verfolgungsinteresse des chinesischen Staates nicht anzunehmen. Dies gilt umso mehr, als die Beigeladene dem Senat in der mündlichen Verhandlung nicht den Eindruck einer von eigenen politischen Vorstellungen und einem ernsthaften politischen Engagement getragenen Persönlichkeit vermittelt hat, die als eine ernst zu nehmende Regimegegnerin angesehen werden könnte. Sie antwortete in knappen Worten und an der Oberfläche bleibend immer nur auf das, was sie gefragt wurde; sie war nicht in der Lage, alle an führender Stelle in der Ostturkestanischen Union Tätigen zu benennen und konnte auch die Ziele dieser Organisation nicht substantiiert darlegen.