OVG Thüringen

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Zitieren als:
OVG Thüringen, Beschluss vom 15.11.2002 - 3 EO 438/02 - asyl.net: M3188
https://www.asyl.net/rsdb/M3188
Leitsatz:

Nicht jedwede familiäre Hilfeleistung gegenüber einem zum Aufenthalt in Deutschland berechtigten Familienmitglied kann die Annahme begründen, es liege eine familiäre Beistandsgemeinschaft vor, die ein zwingendes Abschiebungshindernis begründet.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: D (A), Jugoslawen, Albaner, Abgelehnte Asylbewerber, Aufenthaltsbeendende Maßnahmen, Abschiebung, Duldung, Familienangehörige, Mutter, Krankheit, Abschiebungshindernis, Schutz von Ehe und Familie, Beistandsgemeinschaft, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Einstweilige Anordnung
Normen: AuslG § 55 Abs. 2; GG Art. 6 Abs. 1; VwGO § 123
Auszüge:

Die zulässige Beschwerde ist teilweise begründet. Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung in dem tenorierten Umfange liegen vor; der weitergehende Antrag ist unbegründet.

Der Erlass einer einstweiligen Anordnung gem. § 123 Abs. 1 VwGO ist hier indessen nicht deswegen geboten, weil sich der zulässige Antrag des Antragstellers als offensichtlich begründet erwiese oder jedenfalls eine deutlich überwiegende Wahrscheinlichkeit für ein Obsiegen in der Hauptsache gegeben wäre; sie beruht vielmehr auf einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der wiederstreitenden öffentlichen und privaten Interessen.

Nach § 55 Abs. 2 AuslG wird einem Ausländer eine Duldung erteilt, solange seine Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist (oder nach den §§ 53 Abs. 6, 54 AuslG ausgesetzt werden soll). Rechtlich unmöglich ist die Abschiebung, wenn sie aus rechtlichen Gründen nicht durchgeführt werden darf, weil ein Abschiebungsverbot (§ 51 Abs. 1 AuslG) oder ein zwingendes Abschiebungshindernis nach § 53 AuslG oder auf Grund vorrangigen Rechts, namentlich der Grundrechte, gegeben ist. Ein zwingendes Abschiebungshindernis liegt insbesondere auch dann vor, wenn es dem Ausländer nicht zuzumuten ist, seine familiären Beziehungen durch Ausreise zu unterbrechen; hierin liegt zugleich ein seiner freiwilligen Ausreise und seiner Abschiebung entgegenstehendes, von ihm nicht zu vertretendes Hindernis im Sinne des § 30 Abs. 4 AuslG (BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 1997 - 1 C 19/96 -, BVerwGE 106, 13, 17 m. w. N.)

Art. 6 Abs. 1 GG gewährt zwar unmittelbar keinen Anspruch auf Aufenthalt; die entscheidende Behörde hat aber die familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, bei der Anwendung offener Tatbestände und bei der Ermessensausübung pflichtgemäß, d.h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Im Rahmen dieser Ermessensausübung drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einwanderungspolitische Belange regelmäßig dann zurück, wenn ein aufenthaltsberechtigtes Familienmitglied auf die Lebenshilfe des anderen Familienmitglieds angewiesen ist und diese Hilfe sich nur in der Bundesrepublik Deutschland erbringen lässt.

Es erscheint bei summarischer Prüfung derzeit durchaus als möglich, dass eine solche familiäre Beistandsgemeinschaft besteht und daher ein zwingendes Abschiebungshindernis vorliegt.

Aus den vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen ergibt sich, dass die Mutter des Antragstellers nach ihrer schweren Krebsoperation nicht nur körperlich beeinträchtigt ist und der - im Wesentlichen von der Schwester des Antragstellers erbrachten - Pflege und Unterstützung bedarf, sondern dass sie auch psychisch erkrankt ist.

Unter diesen Umständen kann sich die vom Antragsteller (insbesondere in der eidesstattlichen Versicherung) dargelegte Unterstützung seiner Mutter durch die tägliche mehrstündige Zuwendung als Gesprächspartner und seine Vermittlung im offenbar sehr gespannten Verhältnis der Eltern insgesamt unter Umständen als eine tatsächlich erbrachte Beistandsleistung erweisen, auf die seine Mutter, die sich berechtigt im Bundesgebiet aufhält, auch angewiesen ist.

Ob dies so ist, bedarf indes weiterer Aufklärung.

Denn nicht jedwede familiäre Hilfeleistung gegenüber einem zum Aufenthalt in Deutschland berechtigten Familienmitglied kann die Annahme begründen, es liege eine Beistandsgemeinschaft vor, auf Grund deren zwingend Abschiebungsschutz zu gewähren sei. Die von dem Familienmitglied tatsächlich geleistete Hilfe muss vielmehr eine wesentliche sein (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Dezember 1989 - 2 BvR 377/88 -, NJW 1990, 895 (896), zitiert nach Juris). Insbesondere genügt es z. B. nicht, wenn etwa festgestellt würde, dass es dem seelischen Befinden der Mutter des Antragstellers förderlich ist, wenn dieser sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhält und daher die Möglichkeit häufigerer und intensiverer persönlicher Kontakte besteht, als dies nach einer Abschiebung ins Ausland der Fall wäre. Dies ergibt sich schon aus dem Vergleich mit denjenigen Fällen, in denen sich das familiäre Leben der erwachsenen Familienmitglieder als (bloße) Begegnungsgemeinschaft darstellt, woraus nach einhelliger Rechtsprechung grundsätzlich kein Abschiebungsschutz hergeleitet werden kann. In diesen Fällen ist es daher hinzunehmen, dass die Aufrechterhaltung der familiären Kontakte durch die Abschiebung erschwert wird und sich regelmäßig nach Häufigkeit und Intensität reduziert. Auch eine Beeinträchtigung des Wohlbefindens und der Gemütslage der Familienmitglieder durch die räumliche Trennung infolge einer Abschiebung ins Herkunftsland, etwa die Sorge einer Mutter um ein nunmehr in der Ferne lebendes Kind, die sich mitunter durchaus in deutlichen psychischen Reaktionen manifestiert, sind im Lichte des Art. 6 Abs. 1 GG daher grundsätzlich hinzunehmen.

Eine weitere Klärung der offenen Fragen, namentlich durch Einholung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens, in diesem Beschwerdeverfahren erscheint angesichts der Besonderheiten des Verfahrens auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes untunlich.

Die Entscheidung darüber, ob eine einstweilige Anordnung zu erlassen ist oder nicht, ist demnach anhand einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der widerstreitenden privaten und öffentlichen Interessen zu treffen (vgl. BVerfG, a.a.O.). Diese Abwägung fällt hier zugunsten des Antragstellers aus. Er würde - falls sich später herausstellt, dass der geltend gemachte Duldungsgrund vorliegt - in seinem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG verletzt (vgl. dazu auch den Beschluss des Senats vom 26. September 2000, a.a.O.) und müsste, nachdem er seit seinem (...) Lebensjahr über (...) Jahre lang mit seiner Familie in Deutschland gelebt hat, die letztlich rechtswidrige Abschiebung in ein für ihn gleichsam fremdes Land hinnehmen. Demgegenüber fällt der Nachteil, der sich für das öffentliche Interesse ergibt, wenn der Antragsteller einstweilen nicht abgeschoben wird, sich später aber herausstellt, dass Duldungsgründe nicht vorlagen, weniger ins Gewicht; die Herstellung des rechtmäßigen Zustands durch die Abschiebung des Antragstellers würde dadurch lediglich verzögert.

Um diesen möglichen Nachteil für das öffentliche Interesse gering zu halten und eine möglichst rasche Klärung der offenen Fragen herbeizuführen, ist eine zeitliche Befristung der einstweiligen Anordnung angezeigt. Eine Dauer von rund drei Monaten bis zum 28. Februar 2003 sollte genügen, dass der Antragsteller ein aussagekräftiges medizinisches und/oder psychologisches Gutachten einholt, auf dessen Grundlage er sodann entscheidet, ob er an seinem Duldungsbegehren festhält oder nicht.