OVG Hamburg

Merkliste
Zitieren als:
OVG Hamburg, Urteil vom 22.11.2002 - 1 Bf 154/02.A - asyl.net: M3261
https://www.asyl.net/rsdb/M3261
Leitsatz:

Für Rückkehrer nach Afghanistan besteht, auch soweit es sich um Hindus handelt, jedenfalls im Kabuler Raum keine extreme Gefahrenlage mehr, die eine verfassungskonforme Anwendung des § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG rechtfertigt.

Schlagwörter: Afghanistan, Hindus, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Sicherheitslage, Versorgungslage, Existenzminimum, Extreme Gefahrenlage, Interne Fluchtalternative, Kabul
Normen: AuslG § 53 Abs. 6 S. 1
Auszüge:

 

Die Voraussetzungen der hier allein streitigen Vorschrift des § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG liegen nicht vor, und zwar weder in direkter noch in entsprechender Anwendung. Schon nach dem eigenen Vorbringen der Kläger ist nichts dafür erkennbar, dass diesen bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit drohen, die aus ihrer persönlichen, individuellen Situation herrühren.

Auf eine extreme Gefahrenlage können sich die Kläger ebenfalls nicht berufen. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 04. Juni 2002 wird die Sicherheitslage in Kabul und Umgebung im Verhältnis zum übrigen Land auf Grund der ISAF-Präsenz vergleichsweise als zufriedenstellend, wenn auch fragil bezeichnet. Dementsprechend wird auch von Danesch (Auskunft vom 05. 08. 2002) ausgeführt, dass die Regierung Karzai in der Hauptstadt mit Hilfe der internationalen Friedenstruppe in Stärke von über 4. 000 Mann in der Lage sei, eine übergreifende Ordnung durchzusetzen, so dass extreme Formen von gewaltsamen Auseinandersetzungen unterbunden würden und der Einzelne im Großen und Ganzen nicht um seine Existenz zu bangen brauche. Das gelte allerdings angesichts der Ausdehnung der Hauptstadt, in der inzwischen wieder fast 2 Millionen Menschen lebten, nicht überall, insbesondere etwa in den Vororten. Dort komme es oft noch zu Blutrache und dazu, dass unliebsame Personen von manchen noch mächtigen ehemaligen Kommandanten der Mudjaheddin misshandelt und getötet würden. Ein ähnliches Bild der Sicherheitslage in Kabul ergibt sich aus neueren Presseberichten (vgl. Spiegel v. 17. 06. 2002, FAZ v. 06. 09. 2002). Auch wenn es dort jüngst zu einem schweren Bombenanschlag gekommen ist, dem mindestens 15 Menschen zum Opfer gefallen sind (vgl. SZ v. 06. 09. 2002), ist die derzeitige allgemeine Sicherheitslage in Kabul - eindeutig - nicht so, dass dort jeder einzelne Rückkehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Schritt und Tritt dem sicheren Tod oder der Gefahr schwerster Verletzungen ausgesetzt wäre.

Hinsichtlich der Versorgungslage gilt für den Kabuler Raum im Ergebnis nichts anderes. Dabei verkennt der Senat nicht, dass auch hier nach wie vor diverse Schwierigkeiten bestehen, die Bevölkerung mit ausreichender Nahrung zu versorgen und ihr jedenfalls notdürftige Unterbringungmöglichkeiten zu verschaffen. Allerdings sind die zum Teil geäußerten Befürchtungen, etwa des WFP, dass ein totaler Zusammenbruch der Nahrungsmittelversorgung bevorstehe, bisher nicht eingetreten. Insbesondere in den Großstädten gibt es derzeit genügend Lebensmittel, damit kein Mensch zu verhungern braucht (Danesch, a. a. O., S. 6). Auch nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 04. Juni 2002 (S. 7) ist die Versorgungssituation in Kabul - bei allerdings hohen Preisen - grundsätzlich einigermaßen zufriedenstellend.

Auch für Hindus besteht im Kabuler Raum nach den dem Gericht zugänglichen Auskünften und sonstigen Quellen keine so erheblich schlechtere Situation, dass die Annahme einer extremen Gefahrenlage für sie gerechtfertigt wäre. Das gilt einmal hinsichtlich der Sicherheitslage. Nach dem Gutachten Daneschs vom 05. August 2002 an das Verwaltungsgericht Schleswig haben Hindus heute in Afghanistan grundsätzlich keine Verfolgung zu befürchten. Der Gutachter Dr. Glatzer (Gutachten von August 2002 an das Verwaltungsgericht Schleswig) hat ebenfalls bekundet, dass ihm aus jüngster Zeit keine Verfolgungen von Hindus bekannt geworden seien. Hinsichtlich der Versorgungslage besteht für Hindus im Verhältnis zur übrigen Bevölkerung im Kabuler Raum ebenfalls keine erheblich schlechtere Situation. Es ergeben sich aus der Auskunftslage keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass Hindus an der Hilfe ausländischer Hilfsorganisationen nicht partizipieren und/oder sich sonst keine Überlebensmöglichkeiten verschaffen können.