VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 24.02.2003 - A 12 S 939/02 - asyl.net: M3328
https://www.asyl.net/rsdb/M3328
Leitsatz:

Behandlung von Betäubungsmittelabhängigkeit und Hepatitis C in der Türkei möglich; der Abbruch einer Methadon-Substitution und der Wechsel auf eine andere Therapie stellt kein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis dar; medizinische Versorgung ist in der Regel finanzierbar.(Leitsatz der Redaktion)

 

Schlagwörter: Türkei, Krankheit, Hepatitis C, Drogenabhängigkeit, Methadonprogramm, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, Yesil Kart, Grüne Karte, Soziale Bindungen, Wirtschaftslage, Existenzminimum
Normen: AuslG § 53 Abs. 6 S. 1
Auszüge:

Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Feststellung von Abschiebungshindernissen nach der - nach erfolgter teilweiser Klagerücknahme allein in Betracht kommenden - Vorschrift des § 53 Abs. 6 AuslG.

Ausweislich der vorgelegten ärztlichen Atteste und Berichte nimmt der Kläger wegen seiner Heroinsucht seit (...) an einem unter ärztlicher Aufsicht stehenden Methadonprogramm teil (vgl. hierzu zuletzt: Attest von xxx xxxxxxx vom 11.11.2002). Außerdem leidet er an einer Erkrankung der Leber (aktive Hepatitis C), die mit einer medikamentösen Therapie in Form einer Hochdosisinduktionstherapie mit Interferon alfacon-1 in Kombination mit Ribavirin behandelt wird (vgl. hierzu zuletzt: Bericht von xxx xxxxxx vom 19.08.2002). Die genannten ärztlichen Äußerungen, die nicht als förmliche Beweismittel, sondern als schlichtes Parteivorbringen zu würdigen sind (BVerwG, Beschluss vom21.09.1994, Buchholz 310 § 98 VwGO Nr. 46), ergeben indessen kein - im vorliegenden Verfahren allein zu berücksichtigendes zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis.

Nach den in das Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen existieren in der Türkei Therapieeinrichtungen, die die Behandlung von Drogenabhängigen durchführen (vgl. Vertrauensarzt der Deutschen Botschaft Ankara vom 26.11.2000; Deutsche Botschaft Ankara vom 20.04.2001, ASYLIS-Nr. TUR20738001; Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 2001-02-00 (sic), ASYLIS-Nr. TUROO040729; Deutsche Botschaft Ankara vom 06.06.2002, ASYLIS-Nr. TUR23345001). Es ist weder substantiiert vorgetragen noch sonst erkennbar, dass die Inanspruchnahme einer solchen Therapieeinrichtung nicht auch für den Kläger mit hinreichender Aussicht auf Erfolg in Betracht kommen sollte. Eine erhebliche Gesundheitsgefahr bei einer Rückkehr in die Türkei erscheint auch dann nicht beachtlich wahrscheinlich, wenn dort - was anhand der vorliegenden Erkenntnisquellen möglich erscheint - eine Methadonsubstitution nicht durchgeführt werden kann, weil Methadon in der Türkei nicht legal ist. Es kann auf sich beruhen, wie im Rahmen des § 53 Abs. 6 AuslG der Umstand zu würdigen ist, dass einem Drogensüchtigen im Heimatland aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen eine Behandlung vorenthalten wird, die - wie die Drogensubstitution mit Methadon - keine Heilbehandlung im engeren Sinne mit dem unmittelbaren Ziel der Suchtbekämpfung durch Drogenabstinenz darstellt, sondern (zunächst) unter Inkaufnahme einer fortbestehenden Abhängigkeit darauf gerichtet ist, durch die Ersetzung (Substitution) eines Opiats (Heroin) durch ein verwandtes Opiat (Methadon) primär die Lebensumstände des Betroffenen zu verbessern und dabei ein Fortschreiten der Suchterkrankung mit ihren gesundheitlichen und sonstigen Folgen und Risiken zu verhindern (vgl. VG Minden, Urteil vom 07.11.2001 - 3 K 3061/00.A -, ASYLIS-Rspr. Nr. NARE20200532). Denn es ist jedenfalls nicht erkennbar, dass die im Bundesgebiet begonnene Methadonsubstitution für den Kläger den einzigen erfolgversprechenden Therapieansatz darstellt, der eine Stabilisierung seines Gesundheitszustandes sicherstellen und eine erhöhte Rückfallgefährdung und damit verbundene gesundheitliche Nachteile mit hinreichender Wahrscheinlichkeit verhindern kann. Vielmehr ist aufgrund der genannten Erkenntnisquellen davon auszugehen, dass die dem Kläger zugänglichen Einrichtungen in der Türkei zumindest aber adäquate anderweitige Möglichkeiten zur Weitertherapierung seiner Drogensucht anbieten können, die es als nicht beachtlich wahrscheinlich erlassen lassen, dass ihm bei einem möglichen Absetzen der Methadonsubstitution eine - über eine eventuell kurzfristige Entzugssymptomatik hinausgehende - ernstliche Verschlechterung seines Gesundheitszustandes droht.

Eine eventuelle kurzzeitige Therapieunterbrechung, etwa im Zuge der Rückkehr in die Türkei, dürfte bei entsprechender ärztlicher Kontrolle mit keinen erheblichen und konkreten gesundheitlichen Gefahren verbunden sein. Abgesehen davon hängen Übergangsschwierigkeiten, wie das Ausfindigmachen geeigneter Therapieeinrichtungen, noch unmittelbar mit der Art und Weise der Abschiebung oder Rückführung in den Herkunftsstaat zusammen und sind deshalb dem Vollstreckungsverfahren der Ausländerbehörde zuzurechnen. Ihnen kann und muss gegebenenfalls durch die Ausgestaltung der Abschiebung oder Rückführung seitens der Ausländerbehörde begegnet werden.

Auch die beim Kläger (...) aufgetretene Hepatitis-C-lnfektion, die ausweislich des vorgelegten fachärztlichen Attests vom 19.08.2002 medikamentös mit (...) behandelt wird, begründet - weder für sich genommen noch zusammen mit der Suchtproblematik - ein Abschiebungshindernis gemäß § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG. Die viralen Hepatitiden können nach den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln in mehreren Städten der Türkei mit identischen Methoden und generell auf demselben Niveau wie in Deutschland diagnostiziert sowie medikamentös und chirurgisch behandelt werden, einschließlich Interferon-Therapie und Lebertransplantation; bei chronischer Hepatitis, die keiner Dauerbehandlung, sondern nur regelmäßiger Kontrolluntersuchungen bedarf, können diese ebenfalls durchgeführt werden (vgl. Deutsche Botschaft Ankara vom 12.03.1997, Asylis-Nr. TUROO030317, vom 18.02.1999, Asylis-Nr. TUROO030361, vom 16.03.1999, Asylis-Nr. TUROO040658, vom 18.03.1999, Asylis-Nr. TUROO033916 und vom 06.10.1999, Asylis-Nr. TUROO033880; vgl. auch Prof. Dr. Farabi Dora vom 26.06.1998 an Deutsche Botschaft Ankara; Dr. G. Süer, Internist, Ankara vom 07.07.1999 an Deutsche Botschaft Ankara; Vertrauensarzt der Deutschen Botschaft Ankara vom 02.10.2000; Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge - Informationszentrum Asyl und Migration -, Türkei - Online- Loseblattwerk - r 9. Teil: Gesundheitswesen, Stand November 2002). Die (Weiter-) Behandelbarkeit der Hepatitis-C-Erkrankung des Klägers erscheint danach gewährleistet (zur Behandelbarkeit sämtlicher Erscheinungsformen der Hepatitis in der Türkei vgl. Urteil des Senats vom 07.11.2002 - A 12 S 907/00 -). Vor dem Hintergrund der beschriebenen gefestigten Erkenntnislage ist insbesondere davon auszugehen, dass eine Fortsetzung der im Bundesgebiet begonnenen und bis Anfang Juni 2003 medizinisch indizierten medikamentösen Behandlung (vgl. hierzu die Stellungnahme von xxx xxxxxx vom 19.08.2002) in der Türkei auf grundsätzlich gleichem Niveau wie in Deutschland erfolgen und dadurch eine komplette Ausheilung erreicht werden kann. Demgegenüber gibt die im ärztlichen Bericht vom 19.08.2002 geäußerte Auffassung des behandelnden Arztes xxx xxxxxx, wonach nach seiner Kenntnis das benutzte Präparat in der Türkei nicht zur Verfügung stehe, ebenso wenig Veranlassung für weitere Ermittlungen oder Beweiserhebungen wie das auf die Vernehmung dieses Arztes abzielende Beweisangebot in der Berufungsbegründung. Denn selbst die - unterstellte - Nichtverfügbarkeit eines bestimmten Medikaments im Heimatland ist zumindest dann unschädlich, wenn gleichwohl die Weiterbehandelbarkeit der Hepatitis-C-Erkrankung des Klägers auf andere, gleichwertige Weise sichergestellt ist. Davon, dass es in der Türkei an solchen adäquaten Medikationsmöglichkeiten fehlt, ist indessen unter Würdigung der umfangreichen Erkenntnisquellen nicht auszugehen.

Abgesehen davon kann, wie der Senat bereits im Beschluss vom 20.12.2002 dargelegt hat, auch durch die Mitnahme entsprechender Medikamentendosen Vorsorge dafür getroffen werden, dass die begonnene antivirale Therapie auch im Zuge einer Rückkehr in die Türkei bis zu ihrem zeitnahen Abschluss Anfang Juni dieses Jahres unverändert fortgesetzt werden kann.

Ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG lässt sich auch nicht im Hinblick auf die - allerdings ohne nähere Substantiierung - in der Klagebegründung aufgestellte Behauptung feststellen, dem Kläger stünden nicht die zur Behandlung der Krankheiten in der Türkei notwendigen finanziellen Mittel zur Verfügung.

Die Gefahr, wegen fehlender Eigenmittel eine adäquate Kontrolle und Behandlung seiner Erkrankungen in der Türkei nicht erlangen zu können, besteht nach der Überzeugung des Senats für den Kläger nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit. Nach den Feststellungen des Senats im Urteil vom 07.11.2002 (a.a.O.) sind Erwerbstätige und ihre Familienangehörigen in der Türkei bei der staatlichen Krankenversicherung versichert und werden in den staatlichen Krankenhäusern unentgeltlich behandelt. Nicht erwerbstätige Bedürftige haben Anspruch auf Ausstellung einer Grünen Karte ("yesil kart"), die zu kostenloser medizinischer Versorgung im staatlichen Gesundheitssystem berechtigt (Lagebericht vom 09.10.2002, S. 49). Die Grüne Karte wird von der für den Wohnort des Antragstellers zuständigen Behörde ausgestellt, nachdem zuvor die Anspruchsvoraussetzungen geprüft worden sind (Art. 6 - 8 des Gesetzes 3816 vom 18.06.1992, wiedergegeben in: Auswärtiges Amt, 01.12.2000 an VG Mainz). Zu den Anspruchsvoraussetzungen gehört auch ein Wohnsitz am jeweiligen Ort (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 09.10.2002, S. 49) und möglicherweise die Vorlage einer Wohnsitzbescheinigung (vgl. Auswärtiges Amt, 21.04.1998 an VG Gelsenkirchen). Jedoch bedarf es zur förmlichen Begründung eines neuen Wohnsitzes keiner persönlichen Abmeldung am Ort eines früheren Wohnsitzes. Eine Ummeldung wird vielmehr bei der für den neuen Wohnsitz zuständigen Behörde beantragt, die ihrerseits erforderlichenfalls mit der Behörde des alten Wohnsitzes Verbindung aufnimmt (Auswärtiges Amt, 27.06.1997 an VG Regensburg, 21.04.1998 an VG Gelsenkirchen, 16.03.2000 an VG Würzburg). Der Betroffene ist daher nicht genötigt, allein zur Erlangung der Grünen Karte den Heimatort, an dem ihm möglicherweise Verfolgung droht, aufzusuchen und Kontakt zu den dortigen Behörden aufzunehmen (so auch bereits Senatsurteil vom 09.04.2001 - A 12 S 769/99 -). Ist der Betroffene akut erkrankt, ist auch in der Zeit zwischen Antragstellung und Erteilung der Grünen Karte eine Sofortbehandlung möglich (Lagebericht vom 09.10.2002, S. 49). Auch wenn von Problemen bei Erteilung der Grünen Karte und der Gewährung kostenloser Behandlung berichtet wird (Oberdiek, 27.04.2000, Kaya, 29.04.2000 und Taylan, 13.05.2000, jeweils an OVG Hamburg; IPPNW, 11.11.2001 an VG Stuttgart), ist die damit einhergehende Gefährdung nicht beachtlich wahrscheinlich. Zu berücksichtigen ist, dass in Notlagen auch der Förderfonds für Sozialhilfe und Solidarität (Sosyal Yardimlasma ve Dayanismayi Tesvik Fonu) vorübergehende Hilfe leistet, der auch Kosten von Medikamenten für chronisch Kranke übernimmt (Auswärtiges Amt, 05.06.2000 an OVG Hamburg; Lagebericht vom 09.10.2002, S. 48). Unterstützung kann auch von religiösen Stiftungen erbeten werden (Lagebericht a.a.O.). Eine wichtige und wirksame Quelle für Hilfe in Notlagen finden türkische Staatsangehörige schließlich im Allgemeinen in ihren Familien. Die familiären Bande in der türkischen Bevölkerung sind stark, was auf die islamische Tradition zurückgeht. Dieser Zusammenhalt und ggf. auch der im Stammesverband bewirkt, dass besser gestellte Mitglieder sich stets bemühen, den schlechter gestellten zu helfen, sofern diese nicht selbst ihre Existenz sichern können (Auswärtiges Amt, 07.04.1996 an VG Wiesbaden; Senatsurteile vom 04.11.1996 - A 12 S 3220/95 - und vom 10.12.1998 - A 12 S 2011/96 -; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 27.06.2002 - 8 A 4782/99.A - S. 108; diese Entscheidungen sind in das Verfahren eingeführt worden). Auch der Kläger wird, falls er sie benötigen sollte, auf die Hilfe seiner Familienangehörigen zurückgreifen können, die in der Türkei leben, darunter seine dort verheiratete Schwester und seine in (...) lebenden anderen Verwandten. Außerdem dürfte der Kläger bei Bedarf mit finanzieller Unterstützung durch seine im Bundesgebiet lebende Mutter und die beiden Brüder rechnen können.

Schließlich rechtfertigt auch die allgemeine wirtschaftliche Lage in der Türkei nicht die Zuerkennung von Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG an den Kläger. Auch unter diesem Gesichtspunkt liegt in Bezug auf die Türkei weder ein zwingendes Abschiebungshindernis vor noch bestehen greifbare Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger bei einer Rückkehr dorthin einer individuell bestimmten und erheblichen Gefährdungssituation ausgesetzt sein würde (BVerwG, Urteile vom 17.10.1995, BVerwGE 99, 324, vom 29.03.1996, Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 3; Beschluss vom 18.07.2001, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 46). Ihm droht in der Türkei nicht auf Dauer ein Leben unter dem Existenzminimum, das zu Hunger, Verelendung oder gar zum Tod führen würde. Als türkischem Volkszugehörigen müsste es ihm allemal möglich sein, eine wenn auch bescheidene, wirtschaftliche Existenz zu finden. Dies gilt auch bei Berücksichtigung der aktuellen Wirtschaftslage in der Türkei (vgl. hierzu das Senatsurteil vom 07.05.2002 - A 12 S 196/00 -).