VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 03.03.2003 - 15 B 01.30420 - asyl.net: M3378
https://www.asyl.net/rsdb/M3378
Leitsatz:

Kurden droht schon wegen ihres Asylantrags und ihrer illegalen Ausreise bei einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung; in den faktisch autonomen Kurdengebieten im Nordirak steht ihnen vorliegend keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung. (Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, Kurden, Kirkuk, Zentralirak, Nachfluchtgründe, Subjektive Nachfluchtgründe, Antragstellung als Asylgrund, Illegale Ausreise, Strafverfolgung, Willkür, Amnestie, Interne Fluchtalternative, Nordirak, Existenzminimum, Soziale Bindungen, Flüchtlingslager, Hilfsorganisationen, Unterbringung
Normen: AuslG § 51 Abs. 1; Irak Dekret Nr. 110 vom 28.6.99
Auszüge:

Die Kläger haben Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 51 AuslG. Ihnen droht wegen ihres Asylantrags und ihrer illegalen Ausreise bei einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung. In den faktisch autonomen, derzeit von den Kurden kontrollierten Gebieten des Irak (im Wesentlichen identisch mit den Provinzen Dohuk, Arbil und Sulaimanya; im Folgenden: Nordirak) steht ihnen keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung.

Den Klägern droht, ohne dass es auf ihre Verfolgungsgeschichte ankäme, schon wegen ihres Asylantrags und ihrer illegalen Ausreise mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (dazu BVerwG vom 17.1.1989 BVerwGE 81,170/174 f. sowie vom 5.11.1 BVerwGE 89, 162) politische Verfolgung. Der Senat hat das in seinem Urteil vom 22. Mai 2000 Az. 15 B 98.31916 im Einzelnen begründet. Es gibt keine Erkenntnisse, die eine Änderung dieser Einschätzung rechtfertigen könnten.

Die gutachterliche Einschätzung der Verfolgungsgefahr hat sich nicht relevant geändert. Das Deutsche Orient-Institut (Stellungnahme vom 1.7.2002 an Unabhängigen Bundesasylsenat Wien, S. 3 ff.) enthält sich einer konkreten Stellungnahme: Es sieht das zentrale Problem nicht "für sich genommen" in der AsylantragsteIlung oder der illegalen Ausreise, sondern in der unbegründeten länger währenden Abwesenheit im westlichen Ausland und spricht sich gegen schematische Lösungen aus, ohne weitere Differenzierungskriterien zu nennen. In der Stellungnahme vom 3. Juni 2002 (an das VG Augsburg, S. 5) verneint das Deutsche Orient-Institut die Frage, ob die irakische Regierung die unerlaubte Ausreise anders bewerte als früher.

UNHCR (vgl. UNHCR-Stellungnahme zur Rückkehrgefährdung irakischer Staatsangehöriger nach Asylantragstellung und Aufenthalt im Ausland, Juni 2002, S. 2) spricht sich dafür aus, die Rückkehrgefährdung irakischer Staatsangehöriger nach illegaler Ausreise und AsylantragsteIlung einzelfallbezogen festzustellen. Nach längerem illegalem Auslandsaufenthalt müssten Iraker bei Rückkehr mit besonderer Aufmerksamkeit der irakischen Sicherheitsbehörden rechnen. Willkürakte seien dabei "nicht auszuschließen".

Monika Kadur, a.a.O., S. 10, vertritt die Auffassung, illegaler Auslandsaufenthalt führe unweigerlich zu Verdächtigungen seitens des irakischen Staates; das wiederum ziehe Repressionsmaßnahmen nach sich. In gleicher Weise äußern sich Hajo/Savelsberg (Gutachten vom 3.6.2002 an VG Leipzig, S. 2 ff.).

Als "längeren" Auslandsaufenthalt bezeichnet das Deutsche Orient-Institut (Stellungnahme vom 3.6.2002 an VG Augsburg, S. 12 f.) einen Aufenthalt von mehreren Monaten (s. auch NdsOVG vom 21.6.2002 Az. 9 L 3662/01).

Insgesamt gesehen gibt es damit bei den Gutachtern zwar gewisse Unterschiede in der Einschätzung im Detail. Unverändert besteht aber Einigkeit über die Charakteristik des staatlichen Systems als einer totalitären Diktatur, die sich auf einen rücksichtslos agierenden Sicherheitsapparat stützt, einen Sicherheitsapparat, der außerhalb jeglicher rechtsstaatlicher Kontrolle agiert und willkürlich und mit äußerster Brutalität vorgeht (vgl. AA, Lagebericht vom 20.3.2002, S. 5, 10 f., 13 f., 19 f.).

Vor diesem Hintergrund sind detaillierte Differenzierungen nicht angezeigt. Es ist unverändert beachtlich wahrscheinlich, dass irakische Asylbewerber wegen einer illegalen Ausreise und eines Asylantrags in Deutschland vom irakischen Staat politisch verfolgt werden. Damit befindet sich der Senat in weitgehender Übereinstimmung mit der jüngeren Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte (vgl. VGH BW vom 11.4.2002 Az. A 2 S 712/01; OVG RhPf vom 4.6.2002 Az. 7 A 10365/02,OVG; NdsOVG vom 21.6.02 Az. 9 LB 3662/01; SächsOVG vom 13.9.02 Az. 4 B 269/02; a.A. nur OVG NRW vom 19.7.2002 Az. 9 A 1346/02.A) und der mit Rechtsstreitigkeiten irakischer Asylbewerber befassten weiteren Senate des Verwaltungsgerichtshofs (vgl. 23. Senat vom 6.6.2002 Az. 23 B 02.30536; 20. Senat vom 22.10.2001 Az. 20 B 01.30732).

Den Klägern ist eine Rückkehr in ihr Heimatland nicht zumutbar. Sie wären zwar nicht landesweit von politischer Verfolgung bedroht, sondern im Nordirak auf absehbare Zeit hinreichend sicher (vgl. Urteil des Senats vom 22.5.2000 Az. 15 B 98.31916). Auf eine inländische Fluchtalternative können sie gleichwohl nicht verwiesen werden, weil ihnen im Nordirak nach dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit andere Nachteile und Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen und so am Herkunftsort nicht bestehen (vgl. BVerwG vom 5.10.1999 BVerwGE 109, 353/355 f).

Nach der im Kern übereinstimmenden Einschätzung aller fachkundigen Stellen kann ein ortsfremder Kurde, der im Nordirak nicht länger gelebt hat, über keine gesellschaftlich-familiären Bindungen verfügt oder kein Barvermögen in beträchtlicher Höhe besitzt, dort - abgesehen von der noch zu erörternden Frage eines Aufenthalts in einem Lager für Binnenvertriebene - nicht leben, ohne in existenzielle Not zu geraten (vgl. AA, Lageberichte vom 31.8.1998, 27.1.1999 und 25.10.1999; AA, Auskunft vom 27.3.1998 an VG Mainz; UNHCR, Stellungnahmen vom 2.12.1996 an VG Augsburg, und vom 12.5.1997 an VG München; DOI, Stellungnahmen vom 31.3.1998 an VG Mainz, vom 30.6.1998 an VG Aachen, vom 6.8.1998 an VG Koblenz und vom 6.12.1999 an OVG M-V).

Die Kläger sind im Nordirak ortsfremd und ohne existenzsichernde Beziehungen. Sie haben angegeben, aus Kadir-Karam, einer Stadt in der Nähe von Kirkuk im Zentralirak, zu stammen und im Nordirak keine Verwandten zu haben. Es besteht kein Anhaltspunkt, die Richtigkeit ihres Vorbringen zu bezweifeln.

Die Kläger haben trotz ihrer kurdischen Volkszugehörigkeit keine Möglichkeit, ihr Existenzminimum durch die Inanspruchnahme von Hilfeleistungen kurdischer Parteien oder Organisationen zu sichern. Sie waren nach ihrem Vorbringen politisch nicht für kurdische Organisationen aktiv.

Auf einen noch in Betracht zu ziehenden Aufenthalt in den Lagern für Binnenvertriebene brauchen sich die Kläger bei der gebotenen generalisierenden Betrachtungsweise nicht verweisen zu lassen. Dort hätten sie dauerhaft ein perspektivloses Dahinvegetieren am Rande des Existenzminimums erwarten. Leistungen aus dem Oil-for-Food-Programm (Lebensmittelrationen) sichern lediglich ein Überleben der Lagerbewohner auf niedrigem Niveau (vgl. auch NRC, a.a.O., S. 68: 800.000 Binnenflüchtlinge werden aufgrund des Oil-for-Food-Programms im Nordirak ernährt; Hajo/Savelsberg, Gutachten vom 1.4.2002 an BayVGH, S. 1; Savelsberg, Niederschrift des Verwaltungsgerichtshofs, 15. Senat, über die mündliche Verhandlung vom 8.10.2002, S. 4 f).

Gleichwohl ist in den Lagern bei generalisierender Betrachtungsweise das Existenzminimum bei der Ernährung insgesamt noch gewährleistet, wenn auch der Lebensstandard deutlich unter dem Lebensstandard der eingesessenen Bevölkerung im Nordirak liegt (Aussage des Sachverständigen Savelsberg, Niederschrift des Bayer. Verwaltungsgerichtshofs, 15. Senat, über die mündliche Verhandlung am 8.10.2002; UNHCR, Stellungnahme zur Relevanz der Anwesenheit von Binnenvertriebenen für die Frage des internen Relokationsprinzips, März 2002, S. 4).

Die Unterkünfte der Lagerbewohner liegen allenfalls im untersten Bereich dessen, was noch als "Unterkunft" bezeichnet werden kann (vgl. zur allgemeinen Situation Hajo/Savelsberg, Gutachten vom 27.1.2002 an VG Magdeburg, S. 5: kaum als menschenwürdig zu bezeichnen, Infrastruktur der Lager ist katastrophal; Hajo/Savelsberg, Vorabinformation vom 1.10.2002, S. 2 f., sowie Fotodokumentation "Nordirak I und II" der Sachverständigen Hajo und Savelsberg; NRC, S. 39: Überblick; S. 43 f. zum Zustand der Unterkünfte, der Infrastruktur, der Versorgungseinrichtungen sowie zur Belegungsdichte; S. 74: zum Soforthilfebedarf aus dem Jahresbericht 2001 des IFRC). Die Flüchtlingslager entstanden regelmäßig außerhalb von Städten und bestehen nahezu ausschließlich aus Elendsquartieren in einem katastrophalen baulichen Zustand (vgl. Hajo/Savelsberg, Vorabinformation vom 1.10.2002, S.3). Im Allgemeinen handelt es sich bei den Unterkünften um fensterlose Hütten, zweckentfremdete, partiell zerstörte Bauten, wie früher militärisch genutzte Gebäude, halbverfallene Regierungsgebäude oder Hotels, Zelte oder Kombinationen von Hütten und Zelten (vgl. auch Inga Rogg, Gutachten vom 28.3.2002 an BayVGH, S. 10; NRC, S. 43 f.: Tausende aus Kirkuk und anderen Gebieten Vertriebene leben in Zelten oder früher militärisch genutzten zwischenzeitlich verfallenen Einrichtungen; S. 73 f.).

Die von der UN (Habitat) durchgeführten Bauprogramme führen zu keiner allgemeinen Entlastung bei der Unterbringung von Binnenflüchtlingen. So konnten bisher lediglich 1,32 % der Binnenflüchtlinge in Wohneinheiten untergebracht werden.

Die Zahl der Binnenflüchtlinge nimmt ständig zu (NRC, S. 29, 44; Hajo/Savelsberg, Gutachten vom 27.1.2002 an VG Magdeburg, S. 4). Die Flüchtlingslager sind durchweg überfüllt (Hajo/Savelsberg, Gutachten vom 27.1.2002 an VG Magdeburg, S. 4: "Lager hoffnungslos überfüllt."; vom 18.4.2002 an VG Leipzig, S. 5: "Tendenz steigend"). Die Untergebrachten verfügen in den Unterkünften etwa über eine Fläche von nicht mehr als zwei Quadratmetern (Hajo/Savelsberg, Vorabinformation vom 1.10.2001, S. 3). Gekocht wird im Wohnraum oder im Hof oder in zwei bis drei Quadratmeter großen Kochnischen auf zwei elektrischen Herdplatten. Die meist selbstgebauten sanitären Anlagen im Freien sind extrem primitiv. In den Lagern gibt es regelmäßig kein funktionierendes Abwassersystem (Hajo/Savelsberg, Vorabinformation vom 1.10.2002, S. 3, Gutachten vom 27.1.2002 an VG Magdeburg, S. 4; Inga Rogg, Gutachten vom 28.03.2002 an BayVGH, S. 10: " ... in zahlreichen Lagern marode und bedarf dringend der Sanierung, die nicht geleistet werden kann"; Stellungnahme des UNHCR vom 23.11.2001 an OVG LSA, S. 4: Kanalisations- und sanitäre Anlagen entweder nicht vorhanden oder in einem Zustand des beträchtlichen Zerfalls; ebenso Thomas Uwer, Gutachten vom 27.1.2002 an VG Magdeburg, S. 8). Das Abwasser fließt zwischen den Unterkünften ab, versickert und verunreinigt teilweise das Trinkwasser. In der Mehrzahl der Flüchtlingsunterkünfte ist die Wasserversorgung unzureichend. Verunreinigtes Wasser ist im Nordirak ein immer noch verbreitetes Problem.

Die Müllentsorgung ist unzureichend. Ratten verschlimmern die ohnehin schon problematische sanitäre Situation (Inga Rogg, Gutachten vom 28.3.2002 an BayVGH, S. 10). Eine Stromversorgung besteht nur stundenweise (Hajo/Savelsberg, Vorabinformation vom 1.10.2002, S. 3).

Die Bewohner eines Lagers für Binnenvertriebene erwartet dort unter den vorerwähnten Bedingungen ein Lagerleben auf Dauer ohne irgendeine realistische Perspektive auf eine Eingliederung in ein normales gesellschaftliches Leben (vgl. auch UNHCR, Stellungnahme vom 23.11.2001 an OVG LSA, S. 3, unter Hinweis auf United Nations Security Council, Report of the Secretary General pursuant to paragraph 5 of resolution 1302 2000> S/2000/1132, 29. November 2000, Abs. 4).

Auf ein solches perspektivloses Dahinvegetieren am Rande des Existenzminimums wären die Kläger am Herkunftsort nicht verwiesen. Zwar zeigt die Auskunftslage, dass die Versorgung der Bevölkerung mit einer ausreichenden Ernährung auch im Zentralirak mangelhaft ist, wenngleich andererseits viele Gesprächspartner der Sachverständigen Hajo und Savelsberg in den Lagern an ihren Herkunftsorten im Zentralirak zumindest kleine Läden betreiben konnten (vgl. Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 8.10.2002, S. 4). Bereits im Hinblick auf die Unterkunft unterscheidet sich die Lage in den Flüchtlingslagern aber deutlich von den Verhältnissen im Zentralirak. Von besonderer Bedeutung ist jedoch, dass die Kläger im Nordirak ein dauerhaftes Lagerleben außerhalb oder am Rande der Gesellschaft ohne irgendeine Perspektive einer sozialen Integration erwartet.