VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17.04.2002 - 11 S 1823/01 - asyl.net: M3446
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Leitsatz:

1. Zu den Anforderungen an die Nachforschungs- und Ermittlungspflicht des Verwaltungsgerichts vor der öffentlichen Zustellung einer Gerichtsentscheidung.

2. Zur Frage der Anwendbarkeit von Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 auf einen im Bundesgebiet geborenen türkischen Staatsangehörigen.

3. Durch das Eingreifen des Vorbehalts für die Geltung eines nach dem 1. Abschnitt des ARB 1/80 begründeten Beschäftigungs- und Aufenthaltsrechts nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 wird nicht die Anwendbarkeit des innerstaatlichen deutschen Ausländerrechts ausgeschlossen.

4. Im Recht der Europäischen Gemeinschaften gibt es keine Rechtsgrundlage für eine Ausweisung. (Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: D (A), Türken, Ausweisung, Unbefristete Aufenthaltserlaubnis, Straftäter, Diebstahl, gefährliche Körperverletzung, Jugendstrafe, Freiheitsstrafe, Regelausweisung, Besonderer Ausweisungsschutz, Ermessensausweisung, Schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Wiederholungsgefahr, Spezialprävention, Familienangehörige, Familienzusammenführung, Kinder, Arbeitsmarkt, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Assoziationsberechtigte, Unionsbürger, Gerichtsbescheid, Antrag, mündliche Verhandlung, Monatsfrist, Fristversäumnis, Zustellung, Öffentliche Zustellung, Sachaufklärungspflicht, Zustellungsmangel, Heilung
Normen: VwGO § 56; VwZG § 15 Abs. 1 Bst. a; AuslG § 47 Abs. 2 Nr. 1; AuslG § 48 Abs. 2 S. 2; AuslG § 48 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; AuslG § 47 Abs. 3
Auszüge:

Die Berufung hat insoweit Erfolg, aIs der Kläger sich gegen das angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 9.6.2000 wendet. Dieses Urteil ist aufzuheben. Denn die darin getroffene Feststellung, das Klageverfahren sei durch den Gerichtsbescheid vom 12.11.1999 beendet, ist unrichtig. Der Gerichtsbescheid ist nicht wirksam ergangen. Dementsprechend ist - zur Klarstellung - die Unwirksamkeit dieses Gerichtsbescheids festzustellen.

Voraussetzung für die Richtigkeit der vom Verwaltungsgericht getroffenen Feststellung, das (Klage-) Verfahren sei durch den Gerichtsbescheid beendet worden, wäre, dass der Antrag des Klägers auf mündliche Verhandlung verspätet, d.h. nicht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Gerichtsbescheids gestellt worden ist (§ 84 Abs. 2 Nr. 2 VwGO). Dies wiederum würde voraussetzen, dass der Gerichtsbescheid ordnungsgemäß (wirksam) zugestellt worden ist (§§ 84 Abs. 1 Satz 3, 116 Abs. 1 Satz 2, 56 Abs. 1 und 2 VwGO in Verbindung mit den Vorschriften des VwZG<Bund>. Bereits daran fehlt es. Der Gerichtsbescheid vom 12.11.1999 sollte auf Grund des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 15.11.1999 öffentlich zugestellt werden, da das Verwaltungsgericht davon ausging, dass der Aufenthaltsort des Klägers unbekannt sei (§ 56 VwGO in Verbindung mit § 15 Abs. 1 Buchstabe a VwZG). Eine solche öffentliche Zustellung ist jedoch nur als "letztes Mittel" der Bekanntgabe dann zulässig, wenn alle Möglichkeiten erschöpft sind, das Schriftstück dem Empfänger in anderer Weise zu übermitteln; es sind zuvor gründliche und sachdienliche Bemühungen um Aufklärung des gegenwärtigen Aufenthaltsorts des Empfängers erforderlich (vgl. BVerwG, Beschluss vom 25.4.1994 - 1 B 69.94 -, Buchholz 340 § 15 VwZG Nr.2; Urteil vom 18.4.1997 - 8 C 43.95 - BVerwGE 104, 301 = NVwZ 1999, 178 m.w.N.; ebenso VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 7.12.1990, VBIBW 1991, 340; zur Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch eine unzulässige öffentliche Zustellung vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 26.10.1987, NJW 1988, 2361; zur Unwirksamkeit einer öffentlichen Zustellung nach der § 15 Abs. 1 Buchstabe a VwZG weitgehend entsprechenden Bestimmung des § 203 Abs. 1 ZPO s. auch BGH, Urteil vom 19.12.2001, NJW 2002, 827).

Davon kann im vorliegenden Fall nicht ausgegangen werden. Das Verwaltungsgericht hat in dem angefochtenen Urteil zwar zutreffend die rechtlichen Anforderungen an eine öffentliche Zustellung dargestellt, es ist jedoch diesen Anforderungen tatsächlich nicht gerecht geworden. Das Verwaltungsgericht hat gegen die ihm obliegende Nachforschungs- und Ermittlungspflicht verstoßen. Es hat sich zur Feststellung des Aufenthaltsorts des Klägers damit begnügt, dass ein Schreiben des Berichterstatters, das nach der - dem Verwaltungsgericht bekannten - Abschiebung des Klägers aus der Justizvollzugsanstalt Adelsheim an diese gerichtet war, mit dem (zu erwartenden) Vermerk zurückgesandt wurde, der Kläger sei in die Türkei "verzogen". Weitere Bemühungen um Aufklärung des Aufenthaltsorts des Klägers hat das Verwaltungsgericht nicht unternommen, obwohl solche Bemühungen zumutbar und erfolgversprechend waren. So wurde weder eine Anfrage an die Meldebehörde (vgl. dazu VG Stuttgart, Beschluss vom 16.1.1998, InfAuslR 1998, 182) noch an die früheren Prozessbevollmächtigten des Klägers gerichtet. Es wurde auch kein Zustellungsversuch unter der (dem Verwaltungsgericht bekannten) Anschrift des Klägers vor seinem Aufenthalt in der Justizvollzugsanstalt unternommen. Schließlich wäre im konkreten Fall dem Verwaltungsgericht eine Anfrage bei den Eltern des Klägers nach dessen Aufenthaltsort zumutbar und auch erfolgversprechend gewesen.

Der Gerichtsbescheid ist demnach unwirksam, da er unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugestellt wurde.

Die Ausweisung des Klägers ist rechtlich nicht zu beanstanden.

Das Regierungspräsidium ist zutreffend davon ausgegangen, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 47 Abs. 2 Nr. 1 AuslG für eine Ausweisung des Klägers erfüllt waren. Denn der Kläger war (zuletzt) durch das Urteil des Amtsgerichts - Jugendschöffengericht - (...) (bestätigt durch das Berufungsurteil des Landgerichts Konstanz vom(...)) wegen vorsätzlicher Straftaten (gemeinschaftlich begangener gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Bedrohung) rechtskräftig zu einer Jugendstrafe von (...) verurteilt worden, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Für den Kläger greifen zwar mehrere Ausweisungsschutzvorschriften ein, die jedoch in seinem Fall nicht zur Rechtswidrigkeit der Ausweisung führen.

Zunächst war in seinem Fall der Ausweisungsschutz aus § 48 Abs. 2 Satz 2 AuslG zu beachten. Danach wird ein Heranwachsender, der - wie der Kläger - im Bundesgebiet aufgewachsen ist und mit seinen Eltern in häuslicher Gemeinschaft lebt, nur dann (überhaupt) ausgewiesen, wenn er die Voraussetzungen eines Ausweisungstatbestands nach § 47 Abs. 1 oder Abs. 2 Nr. 1 AuslG erfüllt. Dieser Schutz findet auf den Kläger jedoch keine Anwendung, da seine Ausweisung nach Maßgabe des § 47 Abs. 2 Nr. 1 und des Abs. 3 AuslG - als Ermessensausweisung - erfolgt ist.

Auch der weitere besondere Ausweisungsschutz nach § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr.2 AuslG steht der Ausweisung des Klägers nicht entgegen. Nach dieser Bestimmung kann ein Ausländer, der - wie der Kläger - eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis besitzt und im Bundesgebiet geboren ist, nur dann (überhaupt) ausgewiesen werden, wenn schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung diese Maßnahme rechtfertigen. Diese Voraussetzungen sind beim Kläger erfüllt.

Dem Ausweisungsanlass kommt in seinem Fall ein besonderes Gewicht zu. Seine Straftaten sind zumindest der mittleren Kriminalität zuzurechnen. Nach Art und Schwere haben sie ein besonderes Gewicht, wie dies auch in der zuletzt verhängten Strafe von (...) Jugendstrafe zum Ausdruck kommt. Daran ändert der Umstand nichts, dass es sich bei den Taten des im Tatzeitpunkt heranwachsenden Klägers um Jugendverfehlungen gehandelt haben mag. Besonders die Straftaten, die der letzten Verurteilung zugrunde liegen, lassen ein vom Kläger ausgehendes hohes Gewaltpotential erkennen. Das Landgericht (...) hat (in dem Berufungsurteil vom (...)) die Würdigung des Verhaltens des Klägers durch das Jugendschöffengericht bestätigt, dass sich in der Straftat (gefährliche Körperverletzung) eine große Brutalität gezeigt habe, dass es auch zu erheblichen Verletzungsfolgen gekommen und es nur dem Zufall zu verdanken sei, "dass die Tritte in das Gesicht des Geschädigten ... nicht zu noch gravierenderen Verletzungen geführt haben". Zum maßgeblichen Zeitpunkt lagen auch hinreichende Anhaltspunkte dafür vor, dass vom Kläger eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch neue Verfehlungen ernsthaft droht und somit von ihm eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgeht. Nach Auffassung des Senats ist diesem Erfordernis allerdings nicht schon genügt, wenn eine Wiederholungsgefahr nicht ausgeschlossen werden kann. Vielmehr bedarf es wegen des bestehenden besonderen Ausweisungsschutzes einer erhöhten Wahrscheinlichkeit der Begehung erneuter ähnlich schwerer Straftaten. Diese Voraussetzung war hier jedoch erfüllt. Der Kläger ist seit seinem 16. Lebensjahr straf- und ordnungsrechtlich in erheblichem Maße für die Allgemeinheit gefährlich auffällig geworden und hat bis zum Erlass der Ausweisungsverfügung keine Änderung seines Verhaltens gezeigt. Er hat ersichtlich die Warnfunktion des häufigen Einschreitens der Polizei und der Staatsanwaltschaft sowie der Strafgerichte missachtet und trotz der zweimaligen Verhängung erheblicher Jugendstrafen, sein gefährliches Fehlverhalten fortgesetzt und gesteigert.

Das Regierungspräsidium hat auch über die Ausweisung, die nach dem - hier erfüllten - Tatbestand des § 47 Abs. 2 Nr. 1 AuslG grundsätzlich als Regel-Rechtsfolge erfolgen soll, im Fall des Klägers zu Recht unter pflichtgemäßer Ermessensausübung entschieden.

Das Vorbringen des Klägers im Berufungsverfahren gebietet keine andere rechtliche Beurteilung der Ausweisung.

Der Kläger macht geltend, ihm komme "der erhöhte Ausweisungsschutz nach Art. 7, 14 ARB 1/80 zu". Dies erscheint fraglich. Auch bejahendenfalls wäre jedoch die Ausweisung rechtmäßig verfügt worden.

Es ist bereits fraglich, ob der Kläger sich überhaupt mit Erfolg auf eine Rechtsposition auf Grund des Assoziationsratsbeschlusses EWG - Türkei Nr. 1/80 - ARB 1/80 - berufen kann.

Für den Kläger kommt allenfalls die Regelung in Art. 7 Satz 1 (1. oder 2. Spiegelstrich) ARB 1/80 in Betracht.

Es ist aus mehreren Gründen nicht zweifelsfrei, ob der Kläger sich auf diese Vorschrift berufen kann. Zwar ist der Kläger als Kind seiner - als Arbeitnehmerin dem regulären deutschen Arbeitsmarkt angehörenden - Mutter ein "Familienangehöriger" in diesem Sinne und erfüllte auch die zeitlichen Anforderungen an die Dauer des ordnungsgemäßen Wohnsitzes (3 bzw. 5 Jahre), da er in der Bundesrepublik Deutschland geboren wurde, hier aufgewachsen ist und seit dem Jahr 1994 im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis war. Es könnte jedoch fraglich sein, ob er die tatbestandliche Voraussetzung einer Zuzugsgenehmigung für eine Einreise zur Familienzusammenführung (vgl. dazu auch OVG NRW, Beschluss vom 3.4.2001, NVwZ-RR 2001, 793) erfüllt, nachdem er hier geboren ist und daher eine Nachzugserlaubnis nicht besitzt.

Es ist jedenfalls nicht ohne weiteres ersichtlich, ob die Regelung in Art. 7 Satz 1 ARB 1/80, die nach ihrem eindeutigen Wortlaut ausdrücklich nur eine beschäftigungsrechtliche - und damit implizierte aufenthaltsrechtliche - Privilegierung von Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers enthält, die im Wege des Familiennachzugs legal zu ihm eingereist sind, erweiternd auch auf die - beschäftigungs- und aufenthaltsrechtliche - Situation von (türkischen) Familienangehörigen der sog. zweiten Generation anzuwenden ist. Ein Erstrecht-Schluss (argumentum a maiore ad minus) ist jedenfalls nicht gerechtfertigt, da es sich bereits vom Ansatz her um unterschiedliche Fallgestaltungen handelt.

Allerdings könnte man auch davon ausgehen, dass es nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift bei im Bundesgebiet geborenen Kindern türkischer Arbeitnehmer einer solchen Nachzugserlaubnis (als Einreisegenehmigung) nicht bedarf (so BayVGH, Urteil vom 15.11.2001-10 B 00.1873-EZAR 029 Nr.17; auch Huber, Handbuch des Ausländerrechts, B 402, Art. 7 ARB 1/80, RdNr. 8; Gutmann in GK-AuslR, IX-1, Art. 7, RdNr. 27). In diesem Fall kann der (unbefristeten) Aufenthaltserlaubnis, die dem Kläger ersichtlich als Kind zum Zweck des nach Art. 6 GG gebotenen Schutzes der Familie zur Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft (vgl. § 17 Abs. 1 AuslG) erteilt wurde, möglicherweise die Bedeutung der Zuzugsgenehmigung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 zukommen.

Es könnte weiter fraglich sein, ob der Kläger sich auf das Bewerbungsrecht oder das Zugangsrecht des Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 berufen kann. Denn es ist nicht ersichtlich und der Kläger hat auch nicht vorgetragen, dass er sich im Sinne von Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 um ein konkretes Stellenangebot bewerben wollte (Bewerbungsrecht, Art. 7 Satz 1 1. Spiegelstrich> ARB 1/80), zumal da dieses Recht unter dem Vorbehalt des Vorrangs der Arbeitnehmer aus den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft steht. Ebenso ist nicht ersichtlich und der Kläger hat auch hierzu nicht konkret vorgetragen, dass er den freien Zugang zu einer von ihm gewählten Beschäftigung (Zugangsrecht, Art. 7 Satz 1 2. Spiegelstrich> ARB 1/80) nutzen wollte; dies ist hier insbesondere bedeutsam, weil der Kläger sein letztes Arbeitsverhältnis zum (...) (auf eigenen Wunsch) beendet hat und sich (erst) am 30.7.1998 als Selbststeller bei der Justizvollzugsanstalt (...) zum Strafantritt gestellt hat. Ein (möglicherweise erlangtes) Recht des Klägers auf freien Zugang zum Arbeitsmarkt könnte deshalb - bei entsprechender Anwendung von Art. 6 ARB 1/80 (vgl. dazu Gutmann a.a.O. RdNr. 84) - bereits vor der Ausweisung erloschen sein, weil der Kläger - im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Satz 2 ARB 1/80 nicht "unverschuldet" -beschäftigungslos war. Zum Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung und des Widerspruchsbescheids befand er sich im Strafvollzug. Es kann daher nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dem Kläger habe der freie Zugang zum Arbeitsmarkt nach Art. 7 Satz 1 2. Spiegelstrich> ARB 1/80 zugestanden.

Jedoch selbst dann, wenn man zugunsten des Kläger davon ausgeht, dass er ein - durch eine beschäftigungsrechtliche Position nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 impliziertes - Aufenthaltsrecht erlangt hatte und zu dem für die rechtliche Beurteilung maßgebenden Zeitpunkt noch besaß, kann dieses Recht nur unter dem in Art. 14 , Abs. 1 ARB 1/80 geregelten Vorbehalt der Beschränkungen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind, bestanden haben. Dieser Vorbehalt greift im Fall des Klägers jedenfalls ein und hat die Geltung einer (möglichen) Privilegierung beendet.

Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 setzt den nationalen Behörden Grenzen, wie sie für eine Ausweisung gegenüber einem Unionsbürger gelten (vgl. EuGH, Urteil vom 10.2.2000 <Nazli>, a.a.O.; auch BVerwG, Urteile vom 11.6.1996 - 1 C 24.94 - BVerwGE 101, 247 = InfAusfR 1997, 8 = NVwZ 1997, 297 = VBIBW 1997, 172, und vom 29.9.1998 - 1 C 8.96 - InfAuslR 1999, 54 = NVwZ 1999, 303 = Buchholz 402.240 § 45 AuslG 1990 Nr. 16; OVG NRW, Beschluss vom 2.4.2001, NVwZ 2002, 366). Der Begriff der öffentlichen Ordnung setzt damit voraus, dass außer der Störung der öffentlichen Ordnung, die jede Gesetzesverletzung darstellt, eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, und eine Ausweisung ist nur dann gerechtfertigt, wenn das persönliche Verhalten des Betroffenen auf die konkrete Gefahr von weiteren schweren Störungen der öffentlichen Ordnung hindeutet.

Diesen Anforderungen wird die Ausweisung des Klägers jedoch gerecht. Das Regierungspräsidium hat die Ausweisung in seinem Fall nicht allein mit der Tatsache einer strafgerichtlichen Verurteilung begründet. Es hat diese Maßnahme ferner nicht zu wirtschaftlichen Zwecken getroffen und hat sie auch nicht auf generalpräventive Gründe gestützt.

Unter Berücksichtigung der gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen an die Ausweisung bestehen auch keine rechtlichen Bedenken dagegen, dass die Ausweisung des Klägers - wie ausgeführt - zu Recht auf der gesetzlichen Grundlage der §§ 47 und 48 AuslG verfügt wurde. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass - entgegen der Ansicht des Klägers - türkische Staatsangehörige, auch wenn ihnen die beschäftigungs- und aufenthaltsrechtlichen Privilegierungen nach dem ARB 1/80 zugute kommen, keine Freizügigkeit im Bereich der Europäischen Union genießen und sich daher der Maßstab für die Beschränkungen ihres Beschäftigungs- und Aufenthaltsrechts - durch das Eingreifen des Vorbehalts für die Geltung dieses Rechts nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 - nicht aus § 12 AufenthG/EWG (in Verbindung mit der Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25.2.1964, ABlEG. 1964 S. 850) ergibt. Auch wenn die Anforderungen an eine Beschränkung dieser Rechtsposition der Sache nach denen der Beschränkung der Freizügigkeit von Unionsbürgern entsprechen, wird damit - auch für Unionsbürger - nicht etwa die Anwendbarkeit des innerstaatlichen deutschen Rechts ausgeschlossen. Unter Beachtung des Grundsatzes des Vorbehalts des Gesetzes, der verfassungsrechtlich im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) seine Grundlage hat, darf ein behördlicher Eingriffsakt wie die Ausweisung in der Bundesrepublik Deutschland nur dann erlassen werden, wenn dafür eine dem Bestimmtheitsgrundsatz entsprechende gesetzliche Grundlage besteht. Diese Voraussetzung wird (u.a.) auch für den Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 Abs. 1 EMRK) gefordert, da nach Art. 8 Abs. 2 EMRK der Eingriff "gesetzlich vorgesehen" sein muss (vgl. zur Erfüllung dieser Voraussetzung im Fall eines türkischen Staatsangehörigen durch § 47 Abs. 1 Nr. 1 AuslG EGMR, Entscheidung vom 4.10.2001, EuGRZ 2002,582 <Adam>. Im (primären und sekundären) Recht der Europäischen Gemeinschaften gibt es keine Rechtsgrundlage für eine Ausweisung. Vielmehr hat sich der Gemeinschaftsgesetzgeber insoweit darauf beschränkt, unabhängig vom Recht der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft, lediglich die Anforderungen an eine - nach mitgliedstaatlichem Recht erfolgende - Beendigung des Aufenthalts von Unionsbürgern im Blick auf den Gemeinschaftsbezug - d.h. auf deren Entfernung aus dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats (vgl. Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG) - von bestimmten Voraussetzungen abhängig zu machen. Auch § 12 AufenthG/EWG und § 4 Abs. 1 FreizügV/EG enthalten keine selbständige Rechtsgrundlage für eine Ausweisung, setzen diese Maßnahme vielmehr voraus (vgl. § 15 AufenthG/EWG) und bestimmen lediglich die beschränkenden - inhaltlichen Voraussetzungen dahin, dass entsprechend der Vorgabe durch die Richtlinie 64/221/EWG des Rates (vom 25.2.1964, ABIEG. 1964 S. 850), die zur Konkretisierung der Vorbehalte in Art. 48 Abs. 3 EWG-Vertrag (jetzt: Art. 39 Abs. 3 EG) erlassen wurde, die Ausweisung nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit oder der Volksgesundheit (sowie unter Beachtung der weiteren in der Richtlinie 64/221/EWG enthaltenen Beschränkungen, s. dazu § 12 Abs. 2 bis 9 AufenthG/EWG und § 4 Abs. 2 FreizügV/EG) zulässig ist. Eine Ausweisung kann weder auf der Rechtsgrundlage des Europäischen Gemeinschaftsrechts noch des § 12 AufenthG/EWG oder des § 4 FreizügV/EG erfolgen. Vielmehr stellen die §§ 45 bis 48 AuslG als abstrakt-generelle Regelungen, die in einem ordnungsgemäßen förmlichen Gesetzgebungsverfahren verfassungsrechtlich einwandfrei zustande gekommen sind, die erforderliche und ausreichende gesetzliche Grundlage für eine Ausweisung sowohl von türkischen Staatsangehörigen, die durch die Regelungen des ARB 1/80 privilegiert sind, als auch von freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern dar. Dementsprechend sind sowohl die Tatbestände, die erst eine Ausweisung ermöglichen (§ 45 Abs. 1, § 46 und § 47 Abs. 1 und 2 AuslG), als auch die Tatbestände, die eine Ausweisung ausschließen oder von besonderen Anforderungen abhängig machen (§ 48 AuslG, auch § 45 Abs.2 und § 47 Abs. 3 AuslG), zunächst nach nationalem (deutschem) Ausländerrecht - gleichsam auf einer ersten Stufe - für alle Ausländer zu beachten. Sodann müssen für aufenthaltsrechtlich privilegierte Ausländer (z.B. für freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger oder für türkische Staatsangehörige, die durch die Regelungen des ARB 1/80 privilegiert sind) - gleichsam auf einer zweiten Stufe - zusätzliche Anforderungen für die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme erfüllt sein, falls diese sich (wie beim Kläger) nach nationalem (deutschem) Ausländerrecht als rechtmäßig erweist.

Im Fall des Klägers waren auch die - auf der zweiten Stufe zu beachtenden - besonderen Voraussetzungen für die Ausweisung erfüllt. Die Ausweisung ist aus spezialpräventiven Gründen erfolgt. Beim Kläger liegen insbesondere auf Grund der von ihm (durch seine Straftaten) bewiesenen Gewaltbereitschaft und der von ihm begangenen Diebstahlsdelikte schwerwiegende Ausweisungsgründe vor, die außer der Störung der öffentlichen Ordnung, die jede Gesetzesverletzung darstellt, eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellen, die das Grundinteresse der Gesellschaft an der Abwehr weiterer vom Kläger drohender Gefährdungen berührt. Er hat - wie ausgeführt - durch sein persönliches Verhalten gezeigt, dass von ihm erhebliche Gefahren ausgehen, die zu dem für die rechtliche Beurteilung der Ausweisung maßgebenden Zeitpunkt nicht durch objektiv erkennbare Umstände in ihrer Bedeutung gemindert waren.

Im Übrigen kann sich der Kläger auch nicht mit Erfolg auf Art. 13 ARB 1/80 berufen. Nach dieser Vorschrift dürfen die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die Türkei für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Es ist bereits - wie ausgeführt - fraglich, ob für den Kläger die Regelungen des ARB 1/80 überhaupt Anwendung finden. Ferner steht auch Art. 13 ARB 1/80 unter dem Vorbehalt des Art. 14 ARB 1/80 (vgl. OVG NRW, Urteil vom 13.6.2001, NVwZ 2001, 1438). Jedenfalls aber beruht die Ausweisung im Fall des Klägers nicht auf neuen Beschränkungen im Sinn dieser Vorschrift. Insbesondere hat das Regierungspräsidium den Kläger nicht in Anwendung des Regel-Ausweisungstatbestands des § 47 Abs. 2 Nr. 1 AuslG ausgewiesen. Die Ausweisung ist vielmehr - wie ausgeführt - nach Ermessen erfolgt. Dies entspricht für den hier vorliegenden Fall einer Ausweisung aus Anlass der Begehung von Straftaten einer Ermessens-Ausweisung auf der Rechtsgrundlage des § 10 Abs. 1 Nr. 2 AuslG 1965 (vgl. dazu auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.9.2001 - 11 S 999/01 -).