OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 28.02.2003 - 16 B 2363/02 - asyl.net: M3680
https://www.asyl.net/rsdb/M3680
Leitsatz:

1. Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, die Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt wie deutsche Staatsangehörige haben, können regelmäßig nicht gemäß § 2 Abs. 1 BSHG darauf verwiesen werden, in einer Gemeinschaftsunterkunft zu wohnen, wenn keine ausländerrechtliche Verpflichtung dazu besteht.

2. Bezieht ein Sozialhilfeberechtigter eine Unterkunft mit unangemessen hohen Unterkunftskosten, darf der Sozialhilfeträger nicht unter Hinweis auf § 2 Abs. 1 BSHG die Übernahme von Unterkunftskosten mit der Begründung gänzlich versagen, der Hilfesuchende könne seinen Wohnungsbedarf in einer billigeren Unterkunft befriedigen. Gemäß § 3 Abs. 1 Satz 3 RSVO in der Fassung des Gesetzes zur Reform des Sozialhilferechts vom 23. Juli 1996 (BGBl. I S. 1008) ist der Sozialhilfeträger vielmehr jedenfalls zur Übernahme der angemessenen Aufwendungen verpflichtet.

3. Reine Obdachlosenquartiere (Notunterkünfte) scheiden als Wohnungsaltemative nach dem Bundessozialhilfegesetz aus (wie BVerwG, Urteil vom 30. Mai 1996 - 5 C 14.95 -, BVerwGE 101, 94 = FEVS 47, 97 101>).

4. Zur Zulässigkeit eines Antrags auf Gewährung vorbeugenden Rechtsschutzes (Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: D (A), Konventionsflüchtlinge, Aufenthaltsbefugnis, Sozialhilfe, Hilfe zum Lebensunterhalt, Unterbringung, Gemeinschaftsunterkünfte, Wohnraum, Mindeststandards, Notunterkünfte, Obdachlosenunterkunft, Unterkunftskosten, Genfer Flüchtlingskonvention, Europäisches Fürsorgeabkommen, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Einstweilige Anordnung, Vorwegnahme der Hauptsache, Rechtsweggarantie
Normen: GG Art. 19 Abs. 4 ; VwGO § 80 Abs. 5; VwGO § 123 Abs. 1, VwGO § 173; AsylVfG § 3; AsylVfG § 53 Abs. 2 S. 2; AuslG § 51 Abs. 1; AsylbLG § 1 Abs. 2; AsylbLG § 2 Abs. 3, AsylbLG § 3; BSHG § 11, BSHG §
Auszüge:

Das Verwaltungsgericht hat dem durch Auslegung ermittelten Antrag der Antragsteller, der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig zu untersagen, die Übernahme der Unterkunftskosten der Antragsteller für eine Wohnung auf dem freien Wohnungsmarkt aus Sozialhilfemitteln mit der Begründung abzulehnen, die Antragsteller hätten die Möglichkeit, weiter in einer von ihr vorgehaltenen Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber zu wohnen, zu Recht stattgegeben.

Die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme vorbeugenden Rechtsschutzes, wie ihn die Antragsteller mit dem soeben wiedergegebenen Antrag begehren, sind vorliegend erfüllt.

Zwar ist den Verwaltungsgerichten nach der Verwaltungsgerichtsordnung grundsätzlich nur die nachträgliche Kontrolle der Verwaltung aufgegeben und nicht gestattet, bereits im Vorhinein gebietend oder verbietend in die Verwaltungstätigkeit einzugreifen. Vorbeugende gerichtliche Regelungen sind im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) ausnahmsweise aber dann zulässig, wenn selbst der Verweis auf nachgängigen Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 bzw. § 123 Abs. 1 VwGO mit für den Rechtsschutzsuchenden unzumutbaren Nachteilen verbunden wäre (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 20. November 2001 - 9 S 1572/01 -, NVwZ-RR 2002, 507).

So verhält es sich hier. Die Antragstellerin zu 1., die im (...) in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland eingereist ist, seit (...) in der Gemeinschaftsunterkunft xxx wohnt und seit Längerem bestrebt ist, für sich und ihre (...) geborenen Kinder eine Wohnung privat anzumieten, laufen - wie der Gang der Ereignisse gezeigt hat - Gefahr, dass eine von ihr gefundene Wohnung jeweils bereits vor Ergehen der gerichtlichen Entscheidung im Eilverfahren an andere Interessenten vergeben ist.

Ihnen ist es angesichts ihrer finanziellen Lage unzumutbar, eine Wohnung zunächst auf eigenes Risiko anzumieten und Gefahr zu laufen, dass nicht nur die Antragsgegnerin, sondern auch das Verwaltungsgericht im Nachhinein die Verweisung auf eine Gemeinschaftsunterkunft für rechtmäßig ansieht (vgl. etwa OVG Weimar, Beschluss vom 13. Februar 1997 - 2 EO 514/96 -, FEVS 47,510) und sie deshalb die Kosten der Wohnung selbst tragen müssen bzw. einer entsprechenden Zahlungsverpflichtung ausgesetzt bleiben.

Ebensowenig ist es ihnen unter den gegebenen Umständen ohne zumindest vorläufige Klärung der Rechtslage zumutbar, ihren Wunsch nach Anmietung einer eigenen Wohnung über u.U. mehrere Jahre bis zum Abschluss eines Klageverfahrens zurückzustellen.

Zutreffend hat das Verwaltungsgericht ferner das Bestehen eines Anordnungsanspruchs bejaht.

Die Antragsteller sind weder asylverfahrens- bzw. ausländerrechtlich verpflichtet, in einer Gemeinschaftsunterkunft zu wohnen, noch können sie leistungsrechtlich auf ein Wohnen in ihrer bisherigen Unterkunft oder in dem ihnen angebotenen Wohnmobil verwiesen werden.