BVerwG

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Zitieren als:
BVerwG, Beschluss vom 17.04.2003 - BVerwG 1 B 226.02 - asyl.net: M3708
https://www.asyl.net/rsdb/M3708
Leitsatz:

Verletzung der Sachaufklärungspflicht und dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme durch Verzicht auf eine persönliche Anhörung im Berufungsverfahren. (Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, Nordirak, Blutrache, Zwangsheirat, Familienehre, Vereinfachtes Berufungsverfahren, Glaubwürdigkeit, Anhörung, Revisionsverfahren, Nichtzulassungsbeschwerde, Verfahrensmangel, Sachaufklärungspflicht, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme
Normen: VwGO § 132 Abs. 2 Nr. 3; VwGO § 86 Abs. 1; VwGO § 96
Auszüge:

Die Beschwerde hat mit einer Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) Erfolg. Der angefochtene Beschluss verletzt die gerichtliche Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO). Er verstößt damit zugleich gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 96 VwGO).

Die aus dem Nordirak stammende Klägerin hat zur Begründung ihres Asylantrags geltend gemacht, ihr Vater habe sie zum Zwecke der Beendigung einer Stammesfehde mit einem Angehörigen eines verfeindeten Stammes verheiraten wollen. Dieser Zwangsheirat habe sie sich nur durch eine Flucht aus dem Irak, bei der sie ein Onkel unterstützt habe, entziehen können. Im Falle einer Rückkehr müsse sie sowohl die Rache des verfeindeten Stammes als auch die Tötung durch die eigene Familie befürchten, weil sie durch ihre Flucht Schande über diese gebracht habe. Das Berufungsgericht hat im vereinfachten Berufungsverfahren nach § 130 a VwGO entschieden und hierzu ausgeführt, dieses Vorbringen stelle keinen asylerheblichen Vortrag dar und sei überdies vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) in dem angefochtenen Bescheid eingehend und überzeugend als unglaubwürdig beurteilt worden. Auf diesen Bescheid werde Bezug genommen, da die Klägerin dagegen nichts vorgebracht habe (BA S. 8). Die Beschwerde rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht diese Entscheidung so nicht hätte treffen dürfen, ohne sich zuvor durch persönliche Anhörung ein eigenes Bild von der Glaubwürdigkeit der Klägerin gemacht zu haben.

Das Berufungsgericht hätte die Klägerin nicht lediglich unter Übernahme der entsprechenden Würdigung durch das Bundesamt für unglaubwürdig halten dürfen, ohne sie selbst persönlich angehört zu haben. Nach der Rechtsprechung des Senats darf das Berufungsgericht aus der bei der Anhörung durch das Bundesamt protokollierten Aussage des Ausländers allenfalls dann auf dessen Unglaubwürdigkeit schließen, wenn diese Aussage solche Widersprüche, Ungereimtheiten oder Unvereinbarkeiten mit gesicherten Erkenntnissen des Berufungsgerichts aufweist, dass sie die Wahrheit der behaupteten Tatsachen auch ohne einen persönlichen Eindruck des Gerichts von seiner Glaubwürdigkeit von vornherein ausschließen (vgl. Beschlüsse vom 11. Juni 2002 - BVerwG 1 B 37.02 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 260 und vom 10. Mai 2002 - BVerwG 1 B 392.01 - Buchholz a.a.O., Nr. 259 = NVwZ 2002, 1381). Ein solcher Ausnahmefall liegt hier nicht vor. Inwiefern der vom Bundesamt als wesentlich angeführte Umstand, dass die Klägerin in Deutschland in der Nähe ihres Bruders leben wollte, die Wahrheit ihrer Angaben von vornherein ausschließen soll, lässt sich der Berufungsentscheidung nicht entnehmen.

Der angefochtene Beschluss beruht auf dem festgestellten Verfahrensrechtsverstoß. Es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht bei einer persönlichen Anhörung der Klägerin ihrem Vortrag Glauben geschenkt hätte und möglicherweise zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre. Dies gilt sowohl für den mit der Klage in erster Linie geltend gemachten Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG als auch für den nachrangig geltend gemachten Anspruch nach § 53 AuslG. Der Umstand, dass das Berufungsgericht den Vortrag der Klägerin außerdem als nicht asylerheblich bezeichnet hat, steht dem nicht entgegen. Es hat nämlich diesen nur für die Ablehnung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG einschlägigen Ge-

sichtspunkt auch nicht ansatzweise nachvollziehbar begründet; er ist schon deshalb nicht geeignet, die Entscheidung des Berufungsgerichts zu § 51 Abs. 1 AuslG selbständig zu tragen. Ob sich aus dem Vorbringen der Klägerin, wenn es denn zuträfe, eine asylerhebliche Verfolgungsgefahr ergeben könnte - etwa wegen mittelbarer staatlicher oder quasi staatlicher Verfolgung durch Duldung von Zwangsheirat und Blutrache (vgl. etwa Urteil vom 16. August 1993 - BVerwG 9 C 7.93 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 163 = DVBI 1994, 58 ff.), wie die Beschwerde mit einer Grundsatzrüge geltend macht - lässt sich im Übrigen erst nach näherer Klärung des Sachverhalts durch Anhörung der Klägerin und gegebenenfalls durch sonstige weitere Ermittlungen beurteilen.