VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 02.07.2003 - 9 B 03.30168 - asyl.net: M3924
https://www.asyl.net/rsdb/M3924
Leitsatz:

Sippenhaft wird in Äthiopien zwar nicht generell praktiziert, ist aber im Einzelfall nicht ausgeschlossen; § 51 Abs. 1 AuslG für Sohn eines Mitglieds der Oromo Liberation Front (OLF), der als Neunjähriger erheblich misshandelt worden war.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Äthiopien, OLF, Unbegleitete Minderjährige, Familienangehörige, Vater, OLF, Übergriffe, Oppositionelle, Verfolgungszusammenhang, Sippenhaft, Verhör, Misshandlungen, Situation bei Rückkehr, Interne Fluchtalternative, Existenzminimum, Drittstaatenregelung, Einreise, Luftweg, Beweislast
Normen: AuslG § 51 Abs. 1
Auszüge:

Der Kläger hat Anspruch auf Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG.

In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 9.4.1982 BVerwGE 65, 244; Urteil vom 2.7.1985 EZAR 204 Nr. 2; Urteil vom 13.1.1987 EZAR 204 Nr. 3 und Urteil vom 26.4.1988 EZAR 204 Nr. 4) und des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 28.2.1992 InfAuslR 1992, 215 und Beschluss vom 28.1.1993 InfAuslR 1993, 142) ist es anerkannt, dass staatliche Drangsalierungen von asylrelevanter Intensität gegen die Ehefrau und die minderjährigen Kinder eines politisch Verfolgten als politische Verfolgung i.S. von Art. 16 a Abs. 1 GG und § 51 Abs. 1 AuslG anerkannt werden, auch wenn diese Angehörigen sich selbst nicht politisch betätigt haben. Dem liegt die Erfahrung zugrunde, dass Verfolgerstaaten sich nicht selten an den nahen Angehörigen "rächen", wenn sie des verfolgten Oppositionellen nicht habhaft werden können. Bei Regimen, von denen derartiges bekannt ist, besteht nach der o.a. Rechtsprechung sogar eine Regelvermutung dafür, dass die Drangsalierung des Angehörigen des Oppositionellen auf asylrelevanten Gründen beruht.

So liegt der Fall hier. Dies wurde vorliegend vom Verwaltungsgericht übersehen.

Der Vater des Klägers ist durch Bescheid des Bundesamts vom 22. November 1995 aufgrund seiner Anhörung vom 13. Oktober 1995 und der dort vorgelegten Unterlagen bestandskräftig als politischer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (§ 51 Abs. 1 AuslG) anerkannt. Diese Anerkennung besitzt im vorliegenden Verfahren allerdings keine Bindungswirkung. Die Bindungswirkung besteht nur zwischen der Beklagten und dem Vater des Klägers, nicht aber im Verhältnis zum Kläger. Der Senat schließt sich gleichwohl der Ansicht der Beklagten an, dass der Vater des Klägers in Äthiopien verfolgt wurde. Sein Lebenslauf als Soldat des Mengistu-Regimes mit einer Ausbildung in Kuba ist durch Urkunden und Fotos belegt. Die Tätigkeit für die OLF und die Verhaftung durch die EPRDF-Regierung erscheinen dem Senat durch schlüssige, widerspruchsfreie und eingehende Schilderungen bei der Anhörung durch das Bundesamt am 13. Oktober 1995 und in der mündlichen Verhandlung des Verwaltungsgerichts am 26. Juni 1997 glaubhaft gemacht. Auf die entsprechenden Niederschriften wird Bezug genommen. Außerdem hat der Vater des Klägers noch eine Haftbescheinigung vom 22. Oktober 1994 sowie eine polizeiliche Vorladung vom 17. Dezember 1994 vorgelegt.

Der Kläger wurde wegen seiner Abstammung von einem Gegner der EPRDF- Regierung von Soldaten dieser Regierung mit asylerheblicher Intensität in seiner Gesundheit beeinträchtigt.

Der Kläger trägt vor, er sei von den Soldaten so heftig auf den Kopf geschlagen worden, dass er ohnmächtig geworden sei und im Krankenhaus am Kopf operiert werden musste. Anschließend habe er sich noch einige Zeit im Krankenhaus aufhalten müssen. Bei seiner Ankunft im Münchner Waisenhaus wurde in der Tat eine Narbe am Kopf und gelegentliche Ohrenschmerzen festgestellt. Die Angaben, dass die Wunde auf die Einwirkung von Soldaten zurückgeht, wurde nicht erst im Asylverfahren gemacht, sondern bereits kurz nach der Aufnahme ins Waisenhaus. Dies spricht für die Glaubwürdigkeit der Aussage. In der Sozial-Anamese vom 20. Oktober 1997 ist auch festgehalten, dass der Kläger schon damals angegeben hatte, dass er "von Soldaten vor zwei Mon. zusammengeschlagen" wurde.

Der Senat hat allerdings unter Verwertung der insoweit weitgehend übereinstimmenden Erkenntnisse in seiner Rechtsprechung zur damaligen wie auch zur aktuellen Situation stets die Auffassung vertreten, dass in Äthiopien Sippenhaft generell nicht praktiziert wird. Bei dieser im allgemeinen zutreffenden Einschätzung muss aber ergänzend stets in Betracht gezogen werden, dass ähnlich wie bei dem Bekenntnis der äthiopischen Regierung zur Wahrung der Menschenrechte und insbesondere bei der von der Verfassung untersagten Folter auch bei der nicht zulässigen Sippenhaft wegen der Art der Regierung und wegen des mangelhaften Justizsystems ein Fehlverhalten der staatlichen Sicherheitskräfte nicht verhindert und auch nicht im gebotenen Umfang geahndet wird. Das gilt vor allem für die von bewaffneten Aktivitäten der OLF betroffenen Bereiche, auf die ein erheblicher Teil der Menschenrechtsverletzungen entfällt. Unter diesen Gegebenheiten spricht viel dafür, dass Sippenhaft in der von dem Kläger geschilderten Art vorgekommen ist. Deshalb kann aus einer in Äthiopien generell nicht praktizierten Sippenhaft nicht auf unzutreffende Angaben des Klägers geschlossen werden.

Weil die OLF ihre politischen Ziele unter Anwendung von Gewalt durchsetzen will, es von 1992 bis heute immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen der Organisation mit den staatlichen Sicherheitskräften gekommen ist und mutmaßliche Mitglieder der OLF deshalb staatlicher Verfolgung ausgesetzt waren und sind, ist es durchaus naheliegend und wahrscheinlich, dass der tatsächlich für die OLF aktive Vater des Klägers von den Sicherheitskräften gesucht wurde. Ungeachtet der legitimen staatlichen Verfolgung von Straftaten, die im Rahmen der wiederholten Versuche eines bewaffneten Aufstands oder von Anschlägen auf Repressentanten des Staates oder staatliche Einrichtungen begangen wurden, wirkt sich der politische Hintergrund bei der Verfolgung von Mitgliedern oder Unterstützern der OLF nach den insoweit übereinstimmenden Auskünften und Berichten insoweit als sog. Politmalus aus, als auch unbeteiligte nahe Angehörige durch Haft und Folter in die Verfolgung einbezogen werden. Diese Art des Vorgehens zeigte sich nach den glaubwürdigen Angaben des Klägers darin, dass sogar der neunjährige Sohn eines Verdächtigten erheblich misshandelt wurde. Daraus ergibt sich der politische Charakter der staatlichen Maßnahme gegen den Kläger auch unter Form eines Politmalus, denn eine derart gravierende Verletzung von Menschenrechten kommt offenbar gerade bei der Verfolgung politischer Straftaten von Mitgliedern der OLF gehäuft vor, wird toleriert und zumindest nicht verhindert oder mit der gebotenen Konsequenz geahndet.

Auch heute wäre der Kläger bei einer Rückkehr nach Äthiopien vor politischer Verfolgung nicht hinreichend sicher. Es mag zwar sein, dass nach langjährigem Aufenthalt in Deutschland die Gefahr erneuter politischer Verfolgung geringer wäre als bei der Ausreise, weil die Gründe für die damals ergriffenen Verfolgungsmaßnahmen entfallen sein können oder die staatlichen Sicherheitskräfte möglicherweise keinen Anlaß mehr für ein Vorgehen gegen den Kläger sehen. Angesichts der in Äthiopien im wesentlichen unveränderten Lage einschließlich der dort gehäuft vorkommenden Menschenrechtsverletzungen auch gegenüber nahen Angehörigen mutmaßlicher Mitglieder der OLF sind aber nicht belegbare Mutmaßungen über eine wahrscheinlich geringere Gefährdung des Klägers nicht ausreichend für die Annahme hinreichender Sicherheit vor erneuter politischer Verfolgung. Der Kläger könnte zwar möglicherweise auch dieser Gefährdung in einem anderen Landesteil außerhalb Addis Abbebas entgehen, wäre dort aber nach der Überzeugung des Senats nicht in der Lage, seine wirtschaftliche Existenz durch Arbeit zu sichern.