VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Beschluss vom 12.08.2003 - 12 B 2841/03 - asyl.net: M4018
https://www.asyl.net/rsdb/M4018
Leitsatz:

Abschiebung des Vaters eines ungeborenen deutschen Kindes, der in die Bundesrepublik Deutschland integriert ist, verstößt gegen Art. 8 EMRK. (Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: D (A), Ausländer, Duldung, Aussetzung der Abschiebung, Schutz von Ehe und Familie, EMRK, Europäische Menschenrechtskonvention, Nichteheliche Kinder, Deutsche Kinder, Ungeborene Kinder, Aufenthaltsdauer, Integration, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Einstweilige Anordnung
Normen: VwGO § 123; AuslG § 55 Abs. 2; GG Art. 6
Auszüge:

 

Gemäß § 55 Abs. 2 AuslG ist eine Duldung zu erteilen, wenn die Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist. Rechtlich unmöglich ist die Abschiebung, wenn sie aus rechtlichen Gründen nicht durchgeführt werden darf.

Ob dem Antragsteller bereits im Hinblick auf seine nichteheliche Vaterschaft eines noch ungeborenen Kindes einer deutschen Staatsangehörigen aufenthaltsrechtliche Schutzwirkungen in Ansehung des Schutzes der Familie nach Art. 6 Abs. 1 und 2 GG zugute kommen (bejahend: VG Karlsruhe, Beschluss vom 15. August 2001 - 7 K 2060/01 -; InfAuslR 2002, 38; VG Greifswald, Beschluss vom 27. Januar 1997 - 2 B 3/97 -, juris, und Beschluss vom 24, Juni 1994 - 2 B 910/94 - NVwZ-RR 1995, 543 = FamRZ 1995, 232; VG München, Beschluss vom 2. Dezember 1991 - M 7 E 91.4601 FamRZ 1992, 311; verneinend: Thüringer OVG, Beschluss vom 14. November 1997 - 3 ZEO 1229/97 - EZAR 632 Nr. 30; OVG Saarland, Beschluss vom 25. März 1993 - 3 W 9/93 -, juris; Beschluss vom 25. März 1991 - 3 W20/91 -, juris, und Beschluss vom 25. Februar 1991 - 3 W 20/01 -, juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 11. Januar 1991 - 18 B 9/91 -, FamRZ 1991, 250; Hailbronner, Kommentar zum Ausländerrecht, § 55 Rdnr. 12) kann die Kammer vorliegend offen lassen.

Der vorgesehenen Abschiebung des Antragstellers stehen bereits die Schutzpflichten des Art. 8 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (EMRK - BGBl. II 1952, S. 686, 953 und 1954, S. 14) entgegen. Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung u.a. seines Privat- und Familienlebens. Ein Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist nur statthaft, soweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die u.a. für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen notwendig ist.

In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ist geklärt, dass Art. 8 EMRK bei Eingriffen in den Schutzbereich des Privat- und Familienlebens die Rechtmäßigkeit einer Ausweisung oder einer Abschiebung an die Voraussetzung knüpft, dass diese nur zu einem der in Art. 8 Abs. 2 EMRK zugelassenen Ziele und nur im Rahmen der Verhältnismäßigkeit erfolgen darf. Dem folgt auch das Bundesverwaltungsgericht (vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 1997 - 1 C 19.96 -, BVerwGE 106, 13). Dabei ist zu beachten, dass Art. 8 Abs. 1 EMRK eine Ausweisung oder Abschiebung nicht schlechthin untersagt, sondern er erfordert die Wahrung der Verhältnismäßigkeit zwischen den von der Ausländerbehörde verfolgten Zielen, die in Art. 8 Abs.2 EMRK niedergelegt sind, einerseits mit den mit der Abschiebung verbundenen nachteiligen Folgen für den Ausländer andererseits. Dabei geht das Gericht davon aus, dass grundsätzlich die im AuslG vorgesehene Beendigung des Aufenthalts eines Asylbewerbers nach Abschluss eines Asylverfahrens und Durchsetzung seiner Ausreisepflicht regelmäßig verhältnismäßig im Sinne des Art. 8 EMRK ist. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), dass ein Staat das Recht hat, die Einreise den Aufenthalt und die Ausweisung von Ausländern in sein Staatsgebiet zu kontrollieren (vgl. EGMR, Urteil vom 18. Februar 1991 31/1989/191/291 (Moustaquim) -, InfAuslR 1991, 149 und zuletzt Urteil vom 21. Dezember 2001 M 31465/96 (Sen) -, InfAuslR 2002, 334, m.w.N.). Eine abweichende Beurteilung im Hinblick auf den in Art. 8 Abs. 2 EMRK niedergelegten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Aufenthaltsbeendigung kommt nur in außergewöhnlichen Einzelfällen in Betracht, die entweder bezogen auf das (gesteigerte) Gewicht der Schutzgüter des Ausländers (Privat- und Familienleben) oder hinsichtlich der (geminderten) Bedeutung der öffentlichen Interessen (insbesondere öffentliche Sicherheit, Aufrechterhaltung der Ordnung, Verhütung von Straftaten, Schutz der Rechte und Freiheiten anderer) erkennbare Besonderheiten aufweisen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 23, Oktober 2002, a.a.O. im Fall einer Ausweisung).

Dabei ist jedoch stets eine Betrachtung des Einzelfalles geboten.

Die Abschiebung greift aufgrund ihrer Rechtsfolgen (insbesondere befristetes Wiedereinreiseverbot) in den Schutzbereich des Privat- und Familienlebens des Antragstellers ein.

Nach der Rechtsprechung des BVerwG (UrteiI vom 29. September 1998 - 1 C 8.96 -, InfAuslR 1999, 54 und Urteil vom 9. Dezember 1997, a.a.O.) und des EGMR (vgl. Urteil vom 18. Februar 1991, a.a.O.; Urteil vom. 26. März 1992 - 55/1990/246/317 (Beldjoudi)-, InfAuslR 1994, 86; Urteil vom 13. Juli 1995 - 18/1994/465/564 (Nasri) -, InfAuslR 1996, 1; Urteil vom 19. Februar 1996 - 53/1995/559/645 (Gül), InfAuslR 1996, 245; Urteil vom 26. September 1997 - 85/1996/704/896 (Mehemi) -, InfAuslR 1997, 430; Urteil vom 2. August 2001 - 54273/00 (Boultif) -, InfAuslR 2001, 476 m.w.N. und Urteil vom 21. Dezember 2001, a.a.O.) kommt eine Verletzung des in Art. 8 Abs.2 EMRK verankerten Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bei der Aufenthaltsbeendigung von Ausländern oder deren Familienangehörigen in Betracht, die aufgrund ihrer gesamten Entwicklung faktisch zu Inländern geworden sind und denen wegen der Besonderheiten des Falles ein Leben in dem Staat ihrer Staatsangehörigkeit, zu dem sie keinen Bezug mehr haben, nicht zuzumuten ist (vgl. auch Bay. VGH Beschluss vom 25. Oktober 2000 - 24CS 00.2611 -, InfAuslR 2001, 123). Insoweit kommt dem Schutzgut des Ausländers auf Wahrung seines Familien- und Privatlebens eine gegenüber dem Regelfall gesteigerte Bedeutung zu.

Vorliegend sind die Schutzgüter des Antragstellers höher zu bewerten als die vom Antragsgegner verfolgten öffentlichen Interessen an der Beendigung des Aufenthalts des Antragstellers.

Bezogen auf die Schutzgüter des Antragstellers ist zunächst festzustellen, dass er im Alter von sechs Jahren zusammen mit seinen Eltern bereits im April 1988 in die Bundesrepublik Deutschland einreiste und damit seine Kindheit im Inland verbrachte. Er hält sich bereits mehr als 15 Jahre hier auf. Sein 15jähriger Bruder Roman und seine 13jährige Schwester Rizabet sind in Oldenburg geboren. Seine im Juli 1991 ebenfalls in Oldenburg geborene Schwester Valentina ist infolge einer schweren Erkrankung (Mukoviscidose) im Juli diesen Jahres verstorben. Soweit ersichtlich, bestehen seine sozialen und familiären Bindungen allein in Deutschland. Alle engen Verwandten - seine Eltern und noch minderjährigen Geschwister - leben derzeit in Wardenburg. Die gesamte schulische und berufliche Ausbildung erhielt er in deutscher Sprache. Daher geht das Gericht auch entsprechend dem Vorbringen des Antragstellers davon aus, dass er lediglich die Sprache seiner ethnischen Gruppe Romani sowie Deutsch spricht, nicht jedoch die serbische Sprache. Auch macht er - unwidersprochen - geltend, soziale und familiäre Bindungen in Serbien und Montenegro nicht zu haben. Gegenteiliges lässt sich auch dem Inhalt der Verwaltungsvorgänge nicht entnehmen.

Zusammenfassend geht daher das Gericht davon aus, dass der Antragsteller in der Bundesrepublik Deutschland integriert ist und abgesehen von seiner serbisch-montenegrinischen Staatsangehörigkeit keine anderen Beziehungen zu Serbien und Montenegro hat. Mit der Abschiebung wäre mithin eine gravierende soziale Entwurzelung verbunden und es ist - insbesondere aufgrund der Sprachschwierigkeiten und als Alleinstehender - mit besonders schweren Anpassungsschwierigkeiten zu rechnen, da die soziale und wirtschaftliche Situation für Angehörige der Roma in Serbien und Montenegro ohnehin besonders schwierig ist.

Ob allein dadurch das Gewicht des Schutzgutes des AntragssteIlers das berechtigte öffentliche Interesse an der auf Dauer gerichteten Beendigung des Aufenthalts eine nach Abschluss des Asylverfahrens ausreisepflichtigen Ausländers überwiegt, muss die Kammer nicht entscheiden, weil weitere Gesichtspunkte zugunsten des Antragstellers sprechen.

Das Gericht geht davon aus, dass der Antragssteller im Januar 2004 Vater eines deutschen Kindes wird. Hierzu liegen dem Gericht Erklärungen des Antragstellers unter dem 3. Juni 2003 und der werdenden Mutter, der 15jährigen ... sowie deren Mutter als gesetzliche Vertreterin unter dem 16. und 23. Juni 2003 vor. Unabhängig von der Frage, ob diese Erklärungen derzeit für eine rechtlich verbindliche Vaterschaftsanerkennung ausreichend sind, haben sich keine tragfähigen Anhaltspunkte, dafür ergeben, dass der Antragsteller tatsächlich nicht der Vater des ungeborenen Kindes ist.

Nach der Rechtsprechung des BVerfG verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach der der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, das heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Grundrechtsträgers aus Art. 6 GG, dass die zuständigen staatlichen Stellen bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigt (BVerfG, Beschluss vom 30. Januar 2002 - 2 BvR 231/00 -, NVwZ 2002, 849 = InfAuslR 2002, 171 m.w.N).

Es kann derzeit auch nicht festgestellt werden, dass die familiären Beziehungen des Antragstellers zu seinem später geborenen Kind als unbedeutend zu bewerten sein werden, weil der Antragsteller etwa einen Erziehungsbeitrag tatsächlich nicht erbringen wird. Hierfür lassen sich derzeit keine tragfähigen Anknüpfungspunkte finden. Es mag sein, dass der Antragsteller in der Vergangenheit wiederholt versucht hat, durch Scheinehen mit einer deutschen Staatsangehörigen eine Abschiebung zu verhindern und dass diese Motivation - wie der Antragsgegner meint -, auch bei der Zeugung des ungeborenen Kindes bestimmend gewesen ist. Dies führt indes nicht zu der Annahme, dass die familiäre Beziehungen des Antragstellers zum Kind aus diesem Grunde nicht mehr grundrechtlich geschützt seien, so dass die Aufenthaltsbeendigung gerechtfertigt sei. Ebenso wenig kommt es entscheidend darauf an, ob der Antragsteller tatsächlich das (gemeinsame) Sorgerecht des ungeborenen Kindes übertragen bekommt. Maßgeblich ist allein, ob der Antragsteller nach der Geburt seines Kindes seiner elterlichen Verantwortung in einer tatsächlich gelebten Beziehung nachkommt.

Dementsprechend ist bei dem öffentlichen Interesse an der Durchsetzung der Ausreisepflicht des Antragstellers zu berücksichtigen, dass lediglich für den Zeitraum bis zur Geburt des Kindes im Januar 2004, mithin für die Dauer von fünf Monaten, ein beachtliches öffentliches Interesse an der Abschiebung besteht. Unter Berücksichtigung der schwerwiegenden Folgen einer vorübergehenden Rückkehr nach Serbien und Montenegro für den alleinstehenden Antragsteller kommt diesem öffentlichen Interesse aber eine geringere Bedeutung zu.