OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 23.07.2003 - 8 A 3920/02.A - asyl.net: M4163
https://www.asyl.net/rsdb/M4163
Leitsatz:

§ 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich Türkei für kurdische Yeziden aus Syrien mit türkischer Staatsangehörigkeit; mittelbare staatliche Gruppenverfolgung von ihren Glauben praktizierenden Yeziden in der Türkei.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, Syrien, Kurden, Jesiden, Staatenlose, Staatsangehörigkeit, Gewöhnlicher Aufenthalt, Religiös motivierte Verfolgung, Gruppenverfolgung, Mittelbare Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Interne Fluchtalternative, Abschiebungsschutz, Verfolgungssicherheit, Syrien (A)
Normen: AuslG § 51 Abs. 1; AsylVfG § 27
Auszüge:

Das Klagebegehren der Klägerinnen ist auf die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung von Abschiebungshindernissen im Sinne des § 51 Abs. 1 AuslG - hilfsweise im Sinne des § 53 AuslG - hinsichtlich der Türkei gerichtet. Dies ergibt sich zweifelsfrei aus dem auf § 51 Abs. 1 AuslG gerichteten Antrag der Klägerinnen in Verbindung mit ihrer Behauptung, sie seien türkische Staatsangehörige. Denn bei Personen, die eine Staatsangehörigkeit besitzen, ist die Asylberechtigung - dasselbe gilt für die Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG - allein danach zu beurteilen, ob ihnen in dem Lande ihrer Staatsangehörigkeit politische Verfolgung droht oder nicht. Hingegen kommt es nicht darauf an, ob sie in einem Drittstaat, in dem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten politische Verfolgung befürchten müssen; regelmäßig - abgesehen von etwa erforderlichen Feststellungen zu § 27 AsylVfG - ist es auch unerheblich, ob sie dort bereits einmal politisch motivierten Maßnahmen ausgesetzt gewesen sind (BVerwG, Urteil vom 18. Oktober 1983 - 9 C 158.80 -, BVerwGE 68, 106).

Aus diesen Gründen kann auf die Feststellung der Staatsangehörigkeit in einem Asylverfahren in der Regel nicht verzichtet werden; die Frage kann nur dann offen bleiben, wenn das Gericht die Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs - Art. 16 a Abs. 1 GG, § 51 Abs. 1 AuslG - hinsichtlich aller in Frage kommenden Länder und, für den Fall der Staatenlosigkeit, zusätzllich hinsichtlich des Landes des gewöhnlichen Aufenthalts, geprüft hat und verneinen kann (zu dem Fall der Staatenlosigkeit: BVerwG, Urteil vom 24. Oktober 1995 - 9 C 3.95 -, NVwZ-RR 1996, 602).

Die Klägerinnen besitzen die türkische Staatsangehörigkeit.

Die Klägerin zu 1. ist als im Ausland geborenes Kind eines türkischen Vaters türkische Staatsangehörige (Art. 1 des Gesetzes Nr. 1312 vom 8. Mai 1928). Die Klägerin zu 2. hat die türkische Staatsangehörigkeit jedenfalls gem. Art. Buchst. b) des Staatsangehörigkeitsgesetzes Nr. 403 vom 11. Februar 1964 nach ihrer Mutter erworben, da ihr Vater ihr keine oder ebenfalls die türkische Staatsangehörigkeit vermitteln konnte. Ob er infolge der Ausbürgerungskampagne staatenlos geworden ist oder nach seinen Eltern die türkische Staatsangehörigkeit besitzt oder ob er sogar die syrische Staatsangehörigkeit besitzt, kann im vorliegenden Verfahren offen bleiben, da er jedenfalls nicht arabischer Herkunft ist und der Klägerin zu 2. allein deshalb die syrische Staatsangehörigkeit nicht vermitteln konnte (Art. 3 Buchstabe a des syrischen Gesetzes Nr. 276 vom 24. November 1969; die anderen Erwerbstatbestände des Gesetzes liegen offensichtlich nicht vor). (Zu der Kampagne von 1962: Savelsberg/Hajo/Kömür, Ausländer im eigenen Land - Die Siutation staatenloser Kurden in Syrien, in: Internationales Zentrum für Menschenrechte der Kurden, Ausländer im eigenen Land, Mai 2003, S. 7 ff., 20 ff.; zum syrischen Staatsangehörigkeitsrecht: Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, 117. Lieferung).

Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerinnen die türkische Staatsangehörigkeit verloren haben könnten, sind nicht ersichtlich; insbesondere spricht nichts dafür, dass das Gesetz Nr. 1041 über die Entziehung der Staatsangehörigkeit von Emigranten vom 23. Mai 1927 (außer Kraft getreten am 22. Mai 1964) zu einer - den Beteiligten nicht bekannt gewordenen - Entziehung der türkischen Staatsangehörigkeit bei dem Vater der Klägerin zu 1. geführt haben könnte. Ebenso wenig bestehen Anzeichen dafür, dass die Verlustgründe der Art. 19 bis 28 des türkischen Gesetzes Nr. 403 vorliegen könnten.

Die tatsächlichen Anhaltspunkte, auf die sich das Gericht für die Annahme stützt, dass die Klägerinnen die türkische Staatsangehörigkeit besitzen, sind im vorliegenden Fall ausreichend, so dass der Umstand, dass die Klägerinnen türkische Personalpapiere nicht vorlegen konnten, unschädlich ist.

Yeziden, die ihren Glauben praktizieren, droht derzeit (§ 77 Abs. 1 S. 1 AsylVfG) in der Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mittelbare staatliche Verfolgung. Ein Ausweichen innerhalb der Türkei in Gebiete, in denen eine derartige Verfolgungsgefahr nicht droht, ist nach Einschätzung des Senats nicht möglich.

Von der Gefahr politischer Verfolgung sind nur glaubensgebundene (praktizierende) Yeziden betroffen. Deshalb bedarf es in jedem Einzelfall der positiven Feststellung, dass der Asylbewerber Yezide ist und seinen Glauben praktiziert. Für die Klägerin zu 1. können diese Feststellungen getroffen werden. Für die im Jahre (...) geborene Klägerin zu 2. muss die Frage der Glaubensgebundenheit auf Grund ihres Alters nicht gestellt werden. Sie besitzt dennoch einen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG in ihrer Person, da sie in einer religiös gebundenen und den yezidischen Glauben praktizierenden Familie aufwächst und das rechtliche Schicksal ihrer Familie jedenfalls bis zum Eintritt der Religionsmündigkeit teilt; die Klägerin zu 1. hat in der mündlichen Verhandlung ausführlich dargestellt, welche Bedeutung die Weitergabe des Bewusstseins, bindenden religiös motiverten Verhaltensregeln zu unterliegen, an ihre Kinder im alltäglichen Leben der Familie hat.

Es steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Klägerin zu 1. Yezidin ist und ihren Glauben praktiziert. Ihre Familie stammt aus einem dem Yeziden besiedelten Ort (...) (- Sternberg-Spohr, Bestandsaufnahme der Restbevölkerung der Volksgruppen der kurdischen Ezdi und der christlichen Assyrer in der Süd-Ost-Türkei (Kurdistan-Türkei), März 1993 mit update Oktober 1993, S. 22; Andrews, Ethnic Groups in the Republic of Turkey, Beihefte zum Tübinger Atlas des Vorderen Orients, Reihe B Nr. 60, 1989, S. 118 ff., 349 ff. (351) -), und sie hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Berichterstatter - bestätigt durch die in der mündlichen Verhandlung gehörten Zeugen - zur Überzeugung des Gerichts glaubhaft gemacht, dass sie die Regeln des yezidischen Glaubens praktiziert, weil sie diese für sich als verbindlich anerkennt. Anhaltpunkte dafür, dass die Klägerin zu 1. sich von ihrem Glauben in einer unwiderruflichen Art und Weise - etwa durch Konversion zu einem anderen Glauben - abgewandt hätte, liegen nicht vor.

Die Klägerin zu 1. hat das Gericht davon überzeugt, dass sie ihren Glauben äußerlich erkennbar praktiziert, wei sie die ihr bekannten Glaubensregeln als innerlich verpflichtend und als gültigen Maßstab für ihre Lebensführung empfindet. In der mündlichen Verhandlung hat sie glaubwürdig den Eindruck vermittelt, dass sie in einer yezidischen Familie aufgewachsen ist, von Eltern und Geistlichen eine religiöse Erziehung erhalten hat, dass sie nach ihren geistigen Fähigkeiten in ihrem Glauben verwurzelt ist und diesen an ihre Kinder als verbindlich weitergibt.

Der Verpflichtung, die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich der Türkei festzustellen, steht nicht der Umstand entgegen, dass die Klägerinnen in Syrien geboren sind und bis zu ihrer Ausreise im (...) dort gelebt haben. Auf die Frage, ob die Klägerinnen in Syrien Schutz vor Verfolgung gefunden haben (§ 27 AsylVfG) kommt es nicht an, da diese Vorschrift zwar einer Anerkennung als Asylberechtigter entgegenstehen kann, nicht aber dem aus §§ 51, 53 AuslG folgenden Abschiebungsschutz (BVerwG, Urteil vom 2. Dezember 1986 - 9 C 105.85 -, BVerwGE 75, 181 (noch zur alten - insoweit vergleichbaren - Rechtslage); Marx, AsylVfG, 4. Aufl., § 27 Rz 35; GK-AsylVfG, § 27, Rz 14 ff. m.w.N.). Die Frage, ob die Klägerinnen in Syrien sicher vor politischer Verfolgung waren oder nicht, bedurfte daher im vorliegenden Verfahren keiner weiteren Aufklärung.