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Zitieren als:
BVerwG, Beschluss vom 29.07.2003 - BVerwG 1 B 282.02 - asyl.net: M4225
https://www.asyl.net/rsdb/M4225
Leitsatz:

Allein dass sich ein Berufungsgericht nicht mit entgegenstehender Rechtsprechung anderer Berufungsgerichte auseinandergesetzt hat, begründet keinen Verfahrensmangel i.S.d. § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, Interne Fluchtalternative, Existenzminimum, Auslegung, Beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Amnestie, Revisionsverfahren, Nichtzulassungsbeschwerde, Grundsätzliche Bedeutung, Divergenzrüge, Verfahrensmangel, Sachaufklärungspflicht, Beweiswürdigung
Normen: VwGO § 132 Abs. 2 Nr. 1; VwGO § 132 Abs. 2 Nr. 2; VwGO § 132 Abs. 2 Nr. 3; VwGO § 108 Abs. 1 S. 1; VwGO § 86 Abs. 1; IrakDekret Nr. 110 v. 28.6.99
Auszüge:

 

Die Beschwerden des Beteiligten und der Beklagten sind unbegründet.

Die Grundsatz- und Divergenzrügen des Beteiligten haben keinen Erfolg.

Die Rechtssache hat nicht die von der Beschwerde behauptete grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Die Beschwerde hält die Frage für klärungsbedürftig, ob sich die in wirtschaftlicher Hinsicht an die Zumutbarkeit einer inländischen Fluchtalternative zu stellenden Mindestanforderungen auf das zur Aufrechterhaltung der physischen Existenz absolut Notwendige beschränken oder ob der asylrechtliche Begriff des Existenzminimums über den engeren Wortlaut hinausgehende Vorstellungen von einem menschenwürdigen Dasein umfasst.

Die rechtlichen Anforderungen an das wirtschaftliche Existenzminimum, das am Ort der inländischen Fluchtalternative gegeben sein muss, sind in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts rechtsgrundsätzlich geklärt. Weitergehenden oder neuen rechtsgrundsätzlichen Klärungsbedarf zeigt die Beschwerde hierzu nicht auf. Das hat der Senat zu entsprechenden Rügen bereits ausgeführt (vgl. etwa Beschluss vom 21. Mai 2003 - BVerwG 1 B 263.02); hierauf wird Bezug genommen.

Der Beteiligte kann sich auch nicht mit Erfolg auf eine Abweichung des Berufungsurteils von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts oder des Bundesverwaltungsgerichts berufen (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO).

Keine Divergenz lässt sich aus den Kriterien ableiten, die das Berufungsgericht der inhaltlichen Bestimmung des wirtschaftlichen Existenzminimums am Ort der inländischen Fluchtalternative zugrunde gelegt hat. Auch insoweit hat der Senat zu entsprechenden Fragen bereits Stellung genommen und ausgeführt, an einer Divergenz im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO fehle es jedenfalls deshalb, weil das Berufungsgericht keinen seine Entscheidung tragenden Rechtssatz aufgestellt hat, der zu den von der Beschwerde angeführten Rechtssätzen des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts in Widerspruch stehe (vgl. Beschluss vom 21. Mai 2003 a.a.O.).

Entsprechendes gilt für den der Existenzgefährdung zugrunde gelegten Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Die angefochtene Entscheidung hat im Rahmen der konkreten Subsumtion zwar u.a. auch das "Risiko" erheblicher nachteiliger gesundheitlicher Beeinträchtigungen angeführt. Eine abweichende Maßstabsbildung ergibt sich daraus aber nicht; vielmehr stellt das Berufungsgericht auch insoweit darauf ab, ob der Kläger mit "beachtlicher Wahrscheinlichkeit" das erforderliche wirtschaftliche Existenzminimum finden könne.

Ob eine Divergenz im Zusammenhang mit der Verfolgungssicherheit am Ort der Fluchtalternative vorliegt, wie die Beschwerde behauptet, bedarf an sich keiner weiteren Prüfung, da das Berufungsurteil selbständig tragend auch darauf gestützt ist, dass der Kläger am Ort der inländischen Fluchtalternative im Nordirak kein Existenzminimum finden kann. Da die hiergegen erhobenen Rügen nicht durchgreifen, kommt es auf die zweite tragende Begründung mangelnder Verfolgungssicherheit bei einem Wiedereinmarsch zentralirakischer Truppen nicht (mehr) an. Der Senat bemerkt hierzu gleichwohl, dass der Beteiligte auch insoweit eine Divergenz nicht aufzeigt (vgl. zu einer entsprechenden Rüge des Beteiligten etwa Beschluss vom 25. September 2002 - BVerwG 1 B 79.02).

Die auf Divergenz und Verfahrensrügen gestützte Beschwerde der Beklagten bleibt ohne Erfolg ........

Die Beschwerde sieht eine Abweichung von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts weiter darin, dass das Berufungsgericht einen um Vorstellungen von einem menschenwürdigen Leben angereicherten Begriff des erforderlichen wirtschaftlichen Existenzminimums am Ort der inländischen Fluchtalternative zugrunde gelegt habe. Hierzu wird auf die Ausführungen zu der ähnlichen Rüge des Beteiligten verwiesen. Eine Divergenzrüge im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO lässt sich dem Vorbringen nicht entnehmen. Ebenso wenig ist hierzu ein grundsätzlicher Klärungsbedarf aufgezeigt.

Die von der Beschwerde erhobenen Verfahrensrügen im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO blieben ebenfalls ohne Erfolg.

Die Beklagte kann keinen Verfahrensmangel daraus ableiten, dass sich das Berufungsgericht nicht mit entgegenstehender Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte zur Gewährleistung des wirtschaftlichen Existenzminimums im Nordirak auseinandergesetzt hat.

Soweit die Beschwerde darin einen Verstoß gegen die für die Überzeugungsbildung nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO verbindlichen Grundsätze sieht, wird damit kein Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO bezeichnet.

Eine unzureichende Verwendung des vorliegenden Erkenntnismaterials wäre - wenn sie denn vorläge - ein Fehler in der Sachverhalts- und Beweiswürdigung. Derartige Fehler sind nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aber regelmäßig auch im Asylverfahren - und so auch hier - revisionsrechtlich nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzuordnen (vgl. Beschluss vom 6. Dezember 1995 - BVerwG 9 B 525.95 - <juris>; vgl. auch Beschluss vom 2. November 1995 - BVerwG 9 B 710.94 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 266). Einen Verfahrensmangel kann die Beschwerde auch nicht daraus ableiten, dass sich das Berufungsgericht nicht in der an sich nach § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO gebotenen Weise (vgl. Urteil vom 12. Juli 2001 - BVerwG 1 C 5.01 - BVerwGE , 115, 1 8 f.>) mit der abweichenden Beweiswürdigung in den von der Beschwerde benannten Entscheidungen anderer Oberverwaltungsgerichte auseinander gesetzt habe (vgl. Beschluss vom 6. Dezember 1995, a.a.O.; Beschluss vom 20. Februar 2.003 - BVerwG 1 B 184.02). Inwiefern in der unterlassenen Auseinandersetzung mit den genannten abweichenden Entscheidungen ein Aufklärungsmangel gemäß § 86 Abs. 1 VwGO liegen könnte, zeigt die Beschwerde nicht auf; ein mit dem zitierten Urteil vom 20. März 1990 (- BVerwG 9 C 91.89 - BVerwGE 85, 92) vergleichbarer Fall liegt hier nicht vor.

Die Rüge mangelnder Sachaufklärung durch Nichtberücksichtigung eines aktuellen Lageberichts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Irak (§ 86 Abs. 1 VwGO) greift nicht durch. Die Beschwerde beanstandet, das Berufungsgericht habe bei der Bewertung des irakischen Dekrets Nr. 110 vom 28. Juni 1999, das einen Verzicht auf die Strafverfolgung und Bestrafung von Landesflüchtlingen zum Inhalt habe, sich nur auf Lageberichte aus der Zeit bis zum 5. September 2001 gestützt, aber einen aktuellen ihm vorliegenden Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 20. März 2002 unberücksichtigt gelassen. Aufgrund der neuen Erkenntnisse in diesem Bericht habe sich dem Verwaltungsgerichtshof eine weitere Sachaufklärung aufdrängen müssen. Der erhobene Einwand trifft nicht zu. Zwar hat der Senat in einem anderen Beschwerdeverfahren in der Nichtberücksichtigung des zitierten Lageberichts vom 20. März 2002 eine Verletzung der gerichtlichen Sachaufklärungspflicht gesehen (Beschluss vom 09. Mai 2003 BVerwG 1 B 217.02).

Anders als in dem vom Senat seinerzeit entschiedenen Fall, trifft hier die Rüge der Nichtberücksichtigung der Erkenntnisse aus dem genannten Lagebericht aber nicht zu.

Die Beschwerde selbst räumt ein, dass dem Gericht das Erkenntnismittel vorgelegen hat und es im Urteil auch zitiert wird. Zu Unrecht meint die Beschwerde, das Berufungsgericht habe den aktuellen Lagebericht bei der Würdigung des Dekretes Nr. 110 unberücksichtigt gelassen. Richtig ist vielmehr, dass das angefochtene Urteil auch bei der Bewertung es genannten Dekretes auf den Lagebericht vom 20. März 2002 eingeht und sich mit ihm auseinandersetzt.