VGH Baden-Württemberg

Merkliste
Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 09.07.2003 - 11 S 420/03 - asyl.net: M4256
https://www.asyl.net/rsdb/M4256
Leitsatz:

1. Zu den Kriterien und den unterschiedlichen Anforderungen an die Wiederholungsgefahr (Wahrscheinlichkeit) bei einer Ermessensausweisung nach §§ 45, 46 Nr. 2 AuslG von Straftätern ohne besonderen Ausweisungsschutz - hier: nach Art. 3 Abs. 3 ENA bzw. nach § 48 Abs. 1 AuslG.

2. Straftaten des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern nach § 176a Abs. 1 StGB gehören zu den Deliktsgruppen, die regelmäßig auch nach dem Maßstab des Art. 3 Abs. 3 ENA die Ausweisung aus generalpräventiven Gründen rechtfertigen. (amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: D (A), Türken, unbefristete Aufenthaltserlaubnis, Straftäter, Sexualdelikte, Diebstahl, Freiheitsstrafe, Bewährung, Ausweisung, Ermessensausweisung, Spezialprävention, Generalprävention, Wiederholungsgefahr, Herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Europäisches Niederlassungsabkommen
Normen: AuslG § 45; AuslG § 46 Nr. 2; StGB § 176a Abs. 1 Nr. 1; ENA Art. 3 Abs. 3; ENA Art. 3 Abs. 1
Auszüge:

Zutreffend hat das Regierungspräsidium die Ausweisung auf §§ 45 , 46 Nr. 2 AuslG gestützt. Danach kann ein Ausländer wegen Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen werden, wenn er einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen hat. Der Kläger hat einen - gravierenden - Verstoß gegen § 176a Abs. 1 Nr. 1 StGB (schwerer sexueller Missbrauch von Kindern) begangen und ist deswegen auch rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Der schwere sexuelle Missbrauch von Kindern nach § 176a Abs. 1 StGB gehört nach der Einteilung des Strafgesetzbuchs zur Kategorie der Verbrechen (vgl. § 12 Abs. 1 und Abs. 3 StGB). Die ausgeworfene Freiheitsstrafe ist zur Bewährung ausgesetzt worden. Deswegen greift der Grundtatbestand einer Ermessensausweisung ein und scheidet der - sonst gegebene - Regelausweisungsgrund nach § 47 Abs. 2 Nr. 2 AuslG aus. Außer diesem Verbrechen ist auch die Verurteilung wegen Ladendiebstahls durch Strafbefehl des Amtsgerichts Mannheim vom 27.4.2000 (Geldstrafe von 10 Tagessätzen) zu berücksichtigen.

Besonderer Ausweisungsschutz nach § 48 AuslG stand dem Kläger nicht zu. § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 3 AuslG kommen nicht zur Anwendung, da der Kläger und seine Ehefrau zwar eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis besitzen, keiner aber im Bundesgebiet geboren oder als Minderjähriger eingereist ist. Daher kann an dieser Stelle offen bleiben, ob beim Kläger nach Anlass und Rechtsfolgen schwerwiegende Ausweisungsgründe nach § 48 Abs. 1 AuslG vorlagen (Zur Bedeutung dieser Anforderungen im Rahmen des Ausweisungsschutzes nach Art. 3 Abs. 3 ENA siehe aber unten A II, 1.). Der Kläger konnte vielmehr nach Ermessen - unter umfassender Abwägung der für die Ausweisung sprechenden öffentlichen Interessen mit den persönlichen und familiären, ggf. verfassungsrechtlich geschützten Belangen (§ 45 Abs. 2 Nrn. 1 bis 3, Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 und 2 EMRK) - ausgewiesen werden (§ 114 VwGO). Gemessen daran ist die Ausweisung nicht zu beanstanden.

Für die Ausweisung sprechen gewichtige öffentliche Interessen. Diese liegen insoweit sowohl im Bereich der spezial- als auch der generalpräventiven Gefahrenabwehr. Die Ausweisung ist, wie im angefochtenen Bescheid insoweit zutreffend dargelegt wird, nach den Vorgaben des Ausländergesetzes aus beiden Gründen erforderlich.

Die Ausweisung eines Ausländers aus spezialpräventiven Gründen dient der Vorbeugung gegen Gefahren, die - nach Würdigung seines bisherigen Verhaltens und seiner Persönlichkeit - von ihm selbst in Zukunft für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen. Hat der Ausländer Rechtsverstöße begangen, hängt die Rechtfertigung der Ausweisung von einer Gefahrenprognose, von der Einschätzung der Wiederholungswahrscheinlichkeit, ab. Grad und Ausmaß der zu verlangenden Wiederholungswahrscheinlichkeit stehen dabei nicht statisch-absolut fest, sondern sind wertend (normativ) innerhalb eines durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und durch Rechtsvorschriften gezogenen Rahmens zu ermitteln. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird durch einen das Polizei- und Ordnungsrecht bei Eingriffsakten beherrschenden und daher auch auf die ausländerrechtliche Ausweisung übertragbaren wichtigen Rechtsgedanken konkretisiert. Dieser besagt, dass der erforderliche - einen ausreichenden Ausweisungsanlass begründende - (Mindest)Grad der Wahrscheinlichkeit neuer Verfehlungen davon abhängt, welcher Art die zu erwartenden Schäden sind und welches Ausmaß sie haben. Je größer und folgenschwerer die zu erwartenden Schäden sind, umso geringer muss die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sein.

Diesen Grundsatz der nach dem Schadensausmaß differenzierenden normativen oder relativen Wiederholungswahrscheinlichkeit hat die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des erkennenden Gerichtshofs bei der Beurteilung von Ausweisungen nach § 10 Abs. 1 Nr. 2 AuslG 1965 immer wieder betont (vgl. grundlegend etwa BVerwG, Urteil vom 26.2.1974 - 1 C 31.72 -, BVerwGE 45, 45 = NJW 1974, 807; daran anknüpfend BVerwG, Urteil vom 18.8.1983 - 1 C 131.80 -, BVerwGE 68, 101 = InfAuslR 1984, 172; Beschluss vom 17.10.1984 - 1 B 61.84 -, DVBl. 1985, 57; Beschluss vom 19.3.1990 - 1 B 27.90 -, Buchholz 402.24 § 10 AuslG Nr. 122; ebenso VGH Bad.-Württ., Urteil vom 27.4.1988 - 13 S 1957/86 -, VBlBW 1989, 113 und Urteil vom 29.11.1989 - 11 S 262/89 -(vom BVerwG bestätigt im o.g. Beschluss vom 19.3.1990)). Danach sind für bestimmte Fallgruppen besonders schwerer und schädlicher Delikte an den Grad der Wiederholungswahrscheinlichkeit nur geringe Anforderungen zu stellen. Zu diesen Fallgruppen gehören vor allem Gewalttaten (BVerwG, Urteil vom 18.10.1983, a.a.O <versuchte Vergewaltigung, Körperverletzung> und Beschluss vom 17.10.1984, a.a.O., sowie VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29.11.1989 a.a.O. <versuchter Totschlag>), aber auch - wegen des hohen Rangs des gefährdeten Rechtsguts - Delikte des sexuellen Missbrauchs von Kindern (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 27.4.1988 a.a.O). In diesen und vergleichbar gewichtigen Fällen darf die Ausweisung - bei im Übrigen rechtsfehlerfreier Ermessensausübung - schon vor der Schwelle einer konkreten Wiederholungsgefahr verfügt werden (vgl. BVerwG, Beschluss vom 2.2.1979 - 1 B 238.78 -, Buchholz 402.24 § 10 AuslG Nr. 59 = DVBl. 1979, 592). Ein ausreichender spezialpräventiver Ausweisungsanlass liegt bereits dann vor, wenn "lediglich eine entfernte Möglichkeit weiterer Straftaten besteht" bzw. "sich eine Wiederholungsgefahr nicht ausschließen lässt" (vgl. BVerwG Beschluss vom 17.10.1984 und Urteil vom 18.10.1983 a.a.O; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 27.4.1988 a.a.O). Ob man unter diesen Voraussetzungen die Ausweisung (schon) als Maßnahme der Gefahrenabwehr oder (noch) als Instrument der Gefahrenvorsorge versteht, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 10 Abs. 1 Nr. 2 AuslG a.F. unerheblich, da der Zweck des Ermessens nach dieser Vorschrift beide Aspekte umfasse (vgl. Beschluss vom 17.10.1984 a.a.O. unter Hinweis auf den; ebenso VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29.11.1989 a.a.O.). Diese geminderte Wiederholungsgefahr wird gelegentlich auch als "Wiederholungsgefahr im weiteren Sinn" bezeichnet (so die Terminologie in VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29.11.1989 a.a.O.). Sie unterliegt freilich auch Mindestanforderungen und greift dann nicht mehr ein, wenn bei Anwendung "praktischer Vernunft" neue Verfehlungen nicht (mehr) in Rechnung zu stellen sind, d.h. wenn das von dem Ausländer ausgehende Risiko bei Würdigung aller wesentlichen Umstände des Einzelfalls letztlich kein anderes ist, als es "bei jedem Menschen mehr oder weniger besteht" (so BVerwG, Beschluss vom 17.10.1984 a.a.O.).

An diesen Grundsätzen der mit normativen Elementen angereicherten Wiederholungsgefahr im weiteren Sinn ist auch unter Geltung des Ausländergesetzes 1990 jedenfalls für den Grundtatbestand der "schlichten" Ermessensausweisung nach §§ 45, 46 AuslG 1990 - im Gegensatz zu den Fällen besonderen Ausweisungsschutzes - fest zu halten.

Unter Anlegung dieses geminderten, normativen Bewertungsmaßstabs des Ausländergesetzes ist die Ausweisung des Klägers aus spezialpräventiven Gründen gerechtfertigt. Die die Ausweisung auslösende Straftat (der Ausweisungsanlass) ist ohne Zweifel schwerwiegend und schadensträchtig. Ihr kommt - in den Kategorien des § 48 Abs. 1 AuslG - besonderes Gewicht zu. (...) Der Kläger hat damit massiv in die körperliche und seelische Integrität eines Kindes - mit nicht abschätzbaren Folgen für dessen weiteres Leben - eingegriffen. Während der gesamten Tat war seine Einsichts- und Steuerungsfähigkeit voll erhalten (Strafurteil S. 5). Das Landgericht hat es zudem abgelehnt, die Tat als minder schweren Fall zu gewichten. Zum Nachteil des Klägers hat es die Intensität der Tatbegehung herausgestellt. Die zu Gunsten des Klägers angenommenen Umstände lagen alle außerhalb der Tat (Geständnis, Haftempfindlichkeit, "sozial angepasstes Leben", keine Vorstrafen) und sind nicht geeignet, deren Unwertgehalt zu mindern. Im Hinblick auf das Gewicht der Tatbegehung und den hohen Rang des geschützten Rechtsguts genügte es, dass im Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung eine entfernte Möglichkeit weiterer einschlägiger Sexualstraftaten bestand (so - zu einem ähnlich gelagerten Fall sexuellen Missbrauchs - VGH Bad.-Württ., Urteil vom 27.4.1988 a.a.O.: zu den demgegenüber strengeren Anforderungen bei einem nach EG-Recht freizügigkeitsberechtigten Sexualstraftäter vgl. BVerwG, Urteil vom 27.10.1978 a.a.O.). Diese geminderte Wiederholungsgefahr lag bei Erlass der Ausweisungsverfügung offensichtlich vor.

Die Ausweisung durfte von der Behörde im Rahmen ihres Ermessens nach §§ 45, 46 Nr. 2 AuslG - selbstständig tragend - auch auf generalpräventive Erwägungen gestützt werden. Die Wirkung der Generalprävention soll vor allem dadurch erreicht werden, dass in einer kontinuierlichen Ausweisungspraxis in bestimmten Fallgruppen regelmäßig die Ausweisung verfügt wird, sofern die abgeurteilte Tat nicht durch Besonderheiten gekennzeichnet ist, die ein Bedürfnis für ein generalpräventives Eingreifen entfallen lassen, oder wenn wegen der Tatumstände eine generalpräventive - andere Ausländer von der Begehung gleichartiger Straftaten abhaltende - Wirkung nicht zu erwarten ist. Die vom Kläger begangene Straftat des schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes gehört - etwa neben dem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln und schweren Gewalttaten - zu den Delikten, die eine auf generalpräventive Erwägungen gestützte Ausweisung auf Ermessensbasis rechtfertigen (so schon VGH Bad.-Württ., Urteil vom 27.4.1988, a.a.O., unter Hinweis auf die damalige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts). Anhaltspunkte für eine Ausnahme von dieser grundsätzlichen generalpräventiven Eignung - sei es in zeitlicher Hinsicht oder im Hinblick auf die Besonderheiten der Straftat - sind im Fall des Klägers nicht ersichtlich.

Die Ausweisung hält auch einer Überprüfung am Maßstab von Art. 3 Abs. 3 und Abs. 1 des Europäischen Niederlassungsabkommens - ENA - (vom 13.12.1955, Gesetz vom 30.9.1959, BGBl. II, 997) stand, das am 23.2.1965 in Kraft getreten ist (vgl. Bekanntmachung vom 30.7.1965, BGBl. II, 1099).

Nach Art. 3 Abs. 1 ENA dürfen Staatsangehörige eines Vertragsstaats (dazu gehören auch türkische Staatsangehörige), die ihren ordnungsmäßigen Aufenthalt im Gebiet eines anderen Vertragsstaats haben, nur ausgewiesen werden, wenn sie die Sicherheit des Staates gefährden oder gegen die öffentliche Ordnung oder die Sittlichkeit verstoßen. Nach Art. 3 Abs. 3 ENA ist die Ausweisung von Ausländern, die sich - wie der Kläger - seit mehr als 10 Jahren ordnungsgemäß hier aufhalten, nur zulässig, wenn die Sicherheit des Staates gefährdet ist oder die übrigen Gründe des Abs. 1 besonders schwerwiegend sind. Nach Abschnitt 1 a) Nr. 1 und b) des einen Bestandteil des Abkommens bildenden ENA-Protokolls (vgl. Art. 32 ENA) hat jeder Vertragsstaat das Recht, nach seinen innerstaatlichen Grundsätzen u.a. die - hier allein in Betracht kommenden - Gründe der "öffentlichen Ordnung" zu beurteilen sowie darüber zu entscheiden, ob diese Gründe "besonders schwerwiegend" sind, wobei das Verhalten des Betreffenden während der gesamten Dauer seines Aufenthalts zu berücksichtigen ist. Von dieser nationalen Definitionsbefugnis ist Gebrauch gemacht worden. In der Erwägung, dass völkerrechtliche Verträge nicht notwendig dem Sprachgebrauch innerstaatlicher Vorschriften entsprechen müssen und dass der nationale Gesetzgeber mit § 48 Abs. 1 AuslG die verschiedenen gesetzlichen und in der Rechtsprechung entwickelten Privilegierungstatbestände "auf der höchsten bisher anerkannten Stufe des Ausweisungsschutzes zusammenfassen wollte", hat das Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass zwischen den "schwerwiegenden Gründen" des nationalen Rechts und den "besonders schwerwiegenden Gründen" des Art. 3 Abs. 3 ENA kein qualitativer Unterschied besteht. Mithin gehen Art. 3 Abs. 3 ENA und § 48 Abs. 1 Satz 1 AuslG hinsichtlich der spezial- wie der generalpräventiven öffentlichen Ausweisungszwecke von identischen Anforderungen aus. (vgl. grundlegend BVerwG, Urteil vom 11.6.1996 - 1 C 24.94 -, BVerwGE 101, 247 = NVwZ 1997, 297 = InfAuslR 1997, 8; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 12.11.1996 - 11 S 2601/96 -, InfAuslR 1997, 108). Diesen öffentlichen Ausweisungszwecken sind sodann - auch insofern vergleichbar dem Prüfungsmaßstab bei § 48 Abs. 1 AuslG - die schutzwürdigen persönlichen Belange im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung gegenüber zu stellen. Die wichtigsten Einzelbelange sind dabei aus dem Katalog des § 45 Abs. 2 AuslG zu entnehmen; sie finden sich teilweise wort- oder sinngleich auch in Abschnitt III c) des Protokolls zur ENA wieder (Gebot der "rücksichtsvollen" Ausübung der Ausweisung, unter Berücksichtigung "insbesondere" der "familiären Bindungen und der Dauer des Aufenthalts").

Auch nach Maßgabe dieser qualifizierten Anforderungen des Art. 3 Abs. 3 ENA ist die Ausweisung des Klägers nicht zu beanstanden. Sie ist im öffentlichen Interesse geboten, weil der Kläger besonders schwerwiegend die öffentliche Sicherheit und Ordnung beeinträchtigt und erweist sich auch unter Berücksichtigung seiner persönlichen Belange nicht als unverhältnismäßig.