VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 10.07.2003 - 1 A 124/01 - asyl.net: M4553
https://www.asyl.net/rsdb/M4553
Leitsatz:

Familienangehörige mit Wohnsitzbeschränkungen können nicht auf die Möglichkeit verwiesen werden, die familiäre Lebensgemeinschaft durch Besuche zu führen, sondern haben Anspruch auf einen gemeinsamen Lebensmittelpunkt; können sich die betroffenen niedersächsischen Ausländerbehörden nicht auf die Änderung einer Wohnsitzauflage zu einer Duldung einigen, muss die Bezirksregierung ein Einvernehmen der Behörden herstellen; die dabei erforderlichen Ermessenserwägungen können nicht durch eine gerichtliche Entscheidung ersetzt werden.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: D (A), Duldung, Wohnsitzauflage, Auflage, Umverteilung, Schutz von Ehe und Familie, Kinder, Vater, Ehe, religiöse Eheschließung, Ausländerbehörde, Einvernehmen, Erlasslage, Bezirksregierung, Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null
Normen: AuslG § 56 Abs. 3 S. 2
Auszüge:

Die Klage ist zulässig und begründet, soweit die Klägerin die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und als Minus zu ihrem Antrag eine Neubescheidung nach Maßgabe der Rechtsauffassung des Gerichts begehrt. Im Übrigen ist die Klage als unbegründet abzuweisen.

Die in dem angefochtenen Bescheid zum Ausdruck kommende Weigerung, der Klägerin und ihren Kindern ein legales Zusammenleben mit dem Kindesvater an einem gemeinsamen Wohnort zu ermöglichen, ist rechtsfehlerhaft. An welchem Ort ihr diese Möglichkeit einzuräumen ist, steht im Ermessen des Beklagten, das durch eine noch einzuholende Entscheidung der Bezirksregierung Braunschweig gelenkt wird und nicht vom Gericht ersetzt werden kann.

Gemäß § 56 Abs. 3 Satz 2 AuslG kann die Duldung eine Ausländers mit Auflagen und Bedingungen versehen werden, wozu auch die Auflage gehört, an einem bestimmten Ort Wohnsitz zu nehmen (vgl. Gemeinschaftskommentar zum AuslG § 56 Rn 20; Hailbronner, Kommentar zum AuslG § 56 Rn 9; Kanein/Renner, Kommentar zum AuslG, § 56 Rn 7). Dabei muss die Auflage ihre Rechtfertigung im Zweck des Gesetzes und der vom Gesetzgeber gewollten Ordnung der Materie finden. In diesem Zusammenhang umfasst der Zweck des Ausländergesetzes auch den Schutz finanzieller Belange der Bundesrepublik Deutschland (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.12.1981 - 1 C 145.80, BVerwGE 64, 285). Eine Ermessensentscheidung, die Duldung eines ausreispflichtigen Ausländers, der - wie die Klägerin - Sozialhilfe bezieht, mit einer Wohnsitzauflage zu versehen, um so eine gleichmäßige Verteilung der Sozialhilfelasten auf die Kommunen eines Landes zu gewährleisten, trägt dem Gesetzeszweck Rechnung. Die Wohnsitzauflage wurde somit zunächst zu Recht verfügt.

Bei der Entscheidung, ob eine Duldung mit einer Wohnsitzauflage zu versehen ist bzw. ob eine bestehende Wohnsitzauflage zu ändern oder aufzuheben ist, stehen den fiskalischen öffentlichen Interessen jedoch auch private Belange des Ausländers gegenüber, die in die Ermessenserwägungen einzustellen sind und die regelmäßig überwiegen, wenn sie grundrechtlichen Schutz genießen. So liegt es z.B. dann, wenn der Ausländer begehrt, mit seinem nach islamischen Recht angetrauten Ehepartner in ehelicher Gemeinschaft leben und die elterliche Sorge über die gemeinsamen Kinder ausüben zu wollen. Auch eine nach islamischem Ritus geschlossene Ehe ist nach Art. 6 Abs. 1 GG geschützt und die Behörde verpflichtet, die familiären Bindungen bei ihrer Ermessensausübung pflichtgemäß zur Geltung zu bringen (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.4.1985 - 1 C 33.81, BVerwGE 71, 228; OVG Lüneburg, Beschluss vom 17.05.2001 - 4 MA 911/01, InfAuslR 2001, 387).

Da der Erlass vom 15.07.1998 Fälle einer Familienzusammenführung nicht regelte, sondern ihr lediglich nicht entgegenstand (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 06.06.2001 - 9 LB 1404/01; VG Braunschweig, Beschluss vom 24.07.2001 - 5. B 199/01), hat das Nds. Innenministerium ihn durch einen Runderlass vom 16.10.2002 [Az. 45.11-12230/1-1 (§ 14) N 1] - Nds. MBl. S 938, ersetzt, der nunmehr auch solche Fälle einbezieht. Nach Ziffer 4.1.1 dieses Erlasses ist bei einem beabsichtigten Wohnsitzwechsel in den Zuständigkeitsbereich einer anderen Ausländerbehörde zuvor das Einvernehmen mit dieser herzustellen und - falls es nicht zustande kommt - eine Entscheidung der Bezirksregierung herbeizuführen. Ziffer 4.1.2 des Erlasses bestimmt, dass die Zustimmung der aufnehmenden Ausländerbehörde zu erteilen ist, wenn die Voraussetzungen der Ziffer 5.1 vorliegen. Danach ist eine von allen Beteiligten gewünschte Herstellung der Lebensgemeinschaft enger Familienangehöriger (Ehegatten und minderjährige, unverheiratete - auch nichteheliche - Kinder) stets zu ermöglichen. Bei der Beurteilung der Frage, wo der künftige Wohnsitz genommen werden soll, ist nach Möglichkeit auf berechtigte Wünsche der Betroffenen Rücksicht zu nehmen.

Wenn zur Begründung der ablehnenden Entscheidung ausgeführt wird, die Klägerin könne sich im Land Niedersachen frei bewegen und somit ihren Lebensgefährten jederzeit besuchen, wird das dem verfassungsmäßigen Schutz von Ehe und Familie nicht gerecht. Die ihr erteilte Wohnsitzauflage besagt, dass die Klägerin in der Samtgemeinde Velpke Wohnsitz zu nehmen hat. Als Wohnsitz ist mangels einer ausländerrechtlich spezifischen Definition derjenige Ort zu anzunehmen, an dem der Ausländer seinen Lebensmittelpunkt hat (vgl. § 7 Abs. 1 BGB). Die Klägerin hat jedoch Anspruch darauf, ihren Lebensmittelpunkt an einem Ort zu begründen, an dem auch ihre Kinder und deren Vater leben. Auch der Verweis auf die Möglichkeit eines "Dauerbesuchsaufenthalts" der Klägerin beim Kindesvater ist mit geltendem Recht nicht vereinbar, da ein solcher Aufenthalt zum einen dem Schutzgedanken des Art. 6 GG nicht hinreichend Rechnung trägt und zum anderen einer Aufforderung zum Rechtsbruch gleichkommt, weil die Klägerin damit in der Sache darauf verwiesen wird, ihren Lebensmittelpunkt entgegen der ihr erteilten Auflage faktisch nach Peine zu verlegen.

Da es sich bei der Entscheidung der Bezirksregierung nach § 56 Abs. 3 Satz 2 AuslG Ziffer 4. 1.1 und 5.1 des Erlasses vom 16.10.2002 um eine Ermessensentscheidung handelt, welche die Bezirksregierung im Innenverhältnis trifft, sind ihre Ermessenserwägungen nur im Rahmen einer Klage gegen die nach außen auftretende Ausländerbehörde gerichtlich nachprüfbar. Allerdings ist die Prüfungskompetenz des Gerichts darauf beschränkt festzustellen, ob die Behörde die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (§ 114 VwGO).