VG Leipzig

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Zitieren als:
VG Leipzig, Urteil vom 07.01.2004 - A 6 K 30241/01 - asyl.net: M4732
https://www.asyl.net/rsdb/M4732
Leitsatz:

Ob der Asylantrag unverzüglich - ohne schuldhaftes Zögern - gestellt wurde, hängt grundsätzlich von der Würdigung des Einzelfalles ab.

Ob die Jahresfrist nach § 26 Abs. 2 S. 2 AsylVfG auch für in Deutschland geborene Kinder von noch nicht unanfechtbar anerkannten Asylberechtigten gilt, bleibt offen..(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: D (A), Familienasyl, Kinder, in Deutschland geborene Kinder, Antragstellung, Unverzüglichkeit, Fristen, Jahresfrist
Normen: AsylVfG § 26 Abs. 1 Nr. 3; AsylVfG § 26 Abs. 1 Nr. 4; AsylVfG § 73 Abs. 1
Auszüge:

 

Unverzüglich bedeutet nach der auch im öffentlichen Recht heranzuziehenden Legaldefinition des § 121 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch - BGB - "ohne schuldhaftes Zögern". Erforderlich ist nicht eine sofortige, aber eine alsbaldige Antragstellung. Wie lange das Zögern mit einer Antragstellung dauern darf, bevor es schuldhaft wird, hängt grundsätzlich von einer Würdigung der besonderen Verhältnisse im konkreten Fall ab. Insoweit muss u.a. auch die Möglichkeit gewährleistet sein, Rechtsrat einzuholen. Jedenfalls nach Einführung des Unanfechtbarkeitserfordernisses im Sinne des § 26 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG ist ein Antrag nicht regelmäßig nach Ablauf von 14 Tagen als schuldhaft verspätet anzusehen (so BVerwG, Urt. v. 13.5.1997, a.a.O.), sofern der Asylsuchende nicht auf eine entsprechende - gesetzlich nicht ausdrücklich geregelte - Antragsfrist hingewiesen worden ist. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Jahresfrist des § 26 Abs. 2 Satz 2 AsylVfG nur für nach Rechtskraft der Anerkennung des Asylberechtigten geborene Kinder gilt, ist es jedenfalls auch für einen gewissenhaften Asylsuchenden nach der Änderung des § 26 AsylVfG durch das Gesetz vom 29.10.1997, nicht ohne Weiteres erkennbar, dass er binnen 14 Tagen für sein Kind einen Antrag auf Gewährung von Familienasyl stellen muss, obwohl dieser Antrag überhaupt erst nach unanfechtbarer Anerkennung des Stammberechtigten Erfolg haben kann.

Eine sehr kurz bemessene, weitgehend starre Antragsfrist würde deshalb auch den mit der Regelung des Familienasyls verfolgten unterschiedlichen gesetzgeberischen Intentionen nur eingeschränkt gerecht werden. Eine möglichst rasche Antragstellung soll der Verfahrensvereinfachung und -beschleunigung dienen, um zumindest in einem Teil der Verfahren über die Asylanträge aller Familienmitglieder einheitlich entscheiden zu können. Durch das Erfordernis der Antragstellung unverzüglich nach der Geburt soll verhindert werden, dass eine Verzögerung durch Stellung des Asylantrags die Beendigung des Aufenthalts der gesamten Familie im Falle der Erfolglosigkeit der Asylanträge der Eltern erschwert (BVerwG, a.a.O.). Bejaht das Bundesamt jedoch die politische Verfolgung eines oder beider Elternteile, kann es nunmehr nicht mehr einheitlich - positiv - über die Asylanträge aller Familienmitglieder entscheiden, sondern wird in der Regel die Verfahren der Angehörigen abtrennen und bis zur Unanfechtbarkeit der Anerkennung des Stammberechtigten "ruhen" lassen. Anderenfalls wären Asylanträge von Angehörigen vor unanfechtbarer Asylanerkennung des Stammberechtigten abzulehnen oder entsprechende Klagen abzuweisen, was wiederum zu überflüssigen Gerichts- und Folgeantragsverfahren führen würde.

Darüber hinaus würden erhöhte Anforderungen an das Kriterium der Unverzüglichkeit im Ergebnis die angestrebte Ordnungsfunktion dieser Frist verfehlen. Wird nämlich eine vierzehntägige Antragsfrist aus Unkenntnis versäumt, besteht - vor allem für anwaltlich beratene Asylbewerber - keine Motivation (mehr), zügig für das neugeborene Kind einen Asylantrag zu stellen. Denn nach Ablauf der Antragsfrist des § 26 AsylVfG ist zwar ein Anspruch auf Gewährung von Familienasyl ausgeschlossen, nicht aber ein Anspruch auf Asylgewährung aus sonstigen Gründen, die auch zu einem späteren Zeitpunkt geltend gemacht werden können. Es besteht dann die nach dem Gesetzeszweck zu vermeidende Gefahr, dass Asylanträge für neugeborene Kinder gezielt sukzessiv gestellt werden, um das Verfahren zu verzögern. Grund hierfür ist der in der gesetzlichen Regelung des § 26 AsylVfG angelegte "Widerspruch", dass einerseits diejenigen gezwungen werden sollen, frühzeitig einen Asylantrag für das neugeborene Kind zu stellen, die keinen Anspruch auf Asyl haben, andererseits aber die an eine nicht fristgerechte Antragstellung geknüpfte Sanktion (Ausschluss des Familienasyls) ausschließlich diejenigen trifft, denen an sich ein Anspruch auf Familienasyl zustünde (OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 26.6.2001, a.a.O.).

Eine am Einzelfall orientierte Auslegung des Begriffs der Unverzüglichkeit im Sinne des § 26 AsylVfG entspricht nach Auffassung der Kammer auch dem Sinn und Zweck des Familienasyls. Denn neben einer Verfahrensvereinfachung und -beschleunigung hat der Gesetzgeber eine Förderung der Integration der nahen Familienangehörigen durch Gleichstellung mit dem Stammberechtigten zur Gewährung eines einheitlichen Status für die gesamte (Kern-)Familie beabsichtigt (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, a.a.O.).