OVG Mecklenburg-Vorpommern

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Zitieren als:
OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 17.03.2004 - 2 L 206/00 - asyl.net: M4996
https://www.asyl.net/rsdb/M4996
Leitsatz:

Familienangehörigen von Führungsmitgliedern der FIS oder anderer islamistischer Gruppierungen droht in Algerien nicht generell die Gefahr der Sippenhaft. Ob eine solche Gefahr anzunehmen ist, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab.(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Algerien, FIS, GIA, Funktionäre, Mitglieder, Familienangehörige, Ehefrau, Kinder, Sippenhaft, Amnestie, Nachfluchtgründe, Subjektive Nachfluchtgründe, Antragstellung als Asylgrund, Beweisbeschluss, Auskünfte, Ruhen des Verfahrens, Rechtliches Gehör
Normen: GG Art. 16a; AuslG § 51 Abs. 1
Auszüge:

Die Beigeladenen haben keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte.

Zu Recht hat das Verwaltungsgericht entschieden, dass die Beigeladene zu 1. ihr Heimatland Algerien unverfolgt verlassen hat. Es lässt sich nicht feststellen, dass sie in Algerien bereits politisch verfolgt worden wäre. Zwar hat sie vorgetragen, selbst Mitglied der FIS gewesen, von der Polizei zu den Aktivitäten ihres verstorbenen ersten Ehemannes befragt, sowie außerdem im Rahmen einer Frauengruppe für die Kämpfer der FIS unterstützend tätig gewesen zu sein. Es ist aber nicht erkennbar, dass die algerischen Sicherheitskräfte in Anknüpfung an diese Tätigkeit bzw. Überzeugung gezielt gegen die Beigeladene zu 1. vorgegangen wären, zumal, wie das Verwaltungsgericht zu Recht ausgeführt hat, die entsprechenden Aktivitäten den staatlichen algerischen Beörden nicht konkret bekannt geworden sind. Im Übrigen richteten sich die behördlichen Maßnahmen, soweit die Beigeladene zu 1. davon betroffen wurde, gegen ihren ersten Ehemann. Da dieser bereits im (...) getötet wurde, war die Gefahr für die Beigeladene zu 1., selbst Opfer politischer Verfolgung zu werden, bereits vor ihrer Ausreise entfallen.

Auch Nachfluchtgründe liegen nicht vor. Der Beigeladenen zu 1. droht im Falle einer Rückkehr nach Algerien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung in Anknüpfung an ihre Abstammung bzw. ihre Familienzugehörigkeit. Zutreffend hat das Verwaltungsgericht insbesondere entschieden, dass die Gefahr einer sogenannten Sippenhaft im vorliegenden Fall nicht besteht. Dies hat die Beweisaufnahme durch den Senat ergeben. ...

Der Senat ist nach Auswertung dieser Erkenntnismittel der Auffassung, dass eine generelle Gefahr von Sippenhaft in Algerien derzeit nicht besteht (so bereits VGH Baden-Württemberg, Urt. vom 20.07.1999, A 9 S 45/98, für die Zeit vor In-Kraft-Treten der Generalamnestie). In dieser Einschätzung stimmen die Auskünfte des Auswärtigen Amtes, des Deutschen Orient-Instituts und von amnesty international unter Hinweis auf die in den letzten Jahren verbesserte Menschenrechtssituation im wesentlichen überein. Auch Algeria Watch e.V., das die Gefahr von Sippenhaft bejaht, schränkt diese Einschätzung dahingehend ein, dass die Bedrohung sehr von den Umständen des Einzelfalles abhänge. Der Senat ist daher der Überzeugung, dass im Einzelfall die Gefahr der Sippenhaft (einschließlich Misshandlung bzw. Folter) in Anknüpfung an ein Verwandtschaftsverhältnis zu Aktivisten der FIS bzw. anderer islamistischer Gruppierungen bestehen kann, dass eine solche Gefahr im vorliegenden Fall jedoch nicht beachtlich wahrscheinlich ist.

Amnesty international räumt in seiner Auskunft vom 20.02.2004 ein, dass es sich bei den genannten Referenzfällen politischer Verfolgung um Einzelfälle handelt. Diese bezogen sich sämtlich auf die Konstellation, in der die algerischen Behörden durch die Verhaftung bzw. Misshandlung von Angehörigen Druck auf Aktivisten auszuüben versuchten, soweit diese in Algerien oder vom Ausland aus gegen die Regierung tätig sind. Beachtlich wahrscheinlich ist eine solche Verfolgung von Angehörigen zum einen nur dann, wenn der betreffende Aktivist bzw. dessen Aktivitäten aus Sicht der Regierung bedeutend genug ist, und zum anderen, wenn die algerischen Behörden durch die Verhaftung eines Angehörigen auch tatsächlich Druck auf den Aktivisten ausüben können, d.h. nur unter der Voraussetzung, dass zwischen den Angehörigen persönlicher Kontakt und die Möglichkeit der Einflussnahme besteht. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem "Jahresbericht 2002" von Algeria Watch e.V., soweit darin eine Reihe von Einzelfällen willkürlicher Verhaftungen und "Verschwindenlassen" aufgeführt wird.

Gemessen an diesen Voraussetzungen ist im Falle der Beigeladenen zu 1. nicht davon auszugehen, dass sie im Falle einer Rückkehr nach Algerien mit Sippenhaft zu rechnen hätte. Denn die algerischen Behörden haben seit dem Tod ihres ersten Ehemannes im Jahr 1993 keinen Anlass mehr, der Beigeladenen zu 1. gegenüber Maßnahmen zu ergreifen, die auf die Verfolgung ihres ersten Ehemannes zielen. Es ist auch nicht ersichtlich, dass und aus welchen Gründen die algerischen Behörden zum jetzigen Zeitpunkt ein gesteigertes Interesse daran haben sollten, andere Personen aus der Familie ihres ersten Ehemannes zu verfolgen. Dass viele Mitglieder dieser Familie der Partei FIS angehört haben bzw. immer noch angehören, reicht dafür angesichts der Generalamnestie von 2000 nicht aus.

Die Gefahr politischer Verfolgung ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass die Beigeladene zu 1. seit dem (...) mit ... verheiratet und ihr zweiter Ehemann möglicherweise als Mitglied der islamistischen Gruppierung GIA/GSPC gegen die algerische Regierung tätig gewesen ist. Denn der jetztige Ehemann der Beigeladenen zu 1. befindet sich bereits seit (...) in Haft und wurde im (...) zu einer sechsjährigen Freiheitsstrafe, sowie, nach Begehung weiterer Delikte aus der Gefängniszelle heraus, im (...) erneut zu einer sechsjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Es ist daher davon auszugehen, dass er sich noch bis (...)in Haft befinden wird. Unter diesen Umständen haben die algerischen Behörden jetzt und in absehbarer Zeit keinen Anlass, auf die Beigeladene zu 1. Druck auszuüben, um der Person ihres Ehemannes habhaft zu werden oder Informationen über dessen Aktivitäten zu erhalten. Davon abgesehen ist nichts dafür ersichtlich, dass die Beigeladene zu 1. in die terroristischen Aktivitäten ihres Ehemannes in irgendeiner Weise selbst eingeweiht oder verwickelt sein könnte.

Dem Antrag der Beigeladenen, das Verfahren auszusetzen bzw. zum Ruhen zu bringen, war nicht stattzugeben, insbesondere nicht wegen des Umstandes, dass der UNHCR in seinem Schreiben vom 09.05.2003 mitgeteilt hat, in nächster Zukunft keine Stellungnahme auf die Anfrage des Senats abgeben zu können. Das Gericht ist nicht verpflichtet, aus Gründen des rechtlichen Gehörs auf unabsehbare Zeit zuzuwarten, wenn mit einer Stellungnahme offenkundig nicht mehr zu rechnen ist. Es bedarf daher auch keiner ausdrücklichen Abänderung des Beweisbeschlusses.