OVG Rheinland-Pfalz

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Zitieren als:
OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 12.03.2004 - 10 A 11952/03.OVG - asyl.net: M4997
https://www.asyl.net/rsdb/M4997
Leitsatz:

Zur Frage, ob einem wegen Unterstützung der PKK in den ländlichen Regionen der Südosttürkei vorverfolgten Kurden mit Blick auf die zwischenzeitliche innenpolitische Entwicklung in der Türkei eine Rückkehr dorthin zugemutet werden kann (hier verneint in Fortführung und Aktualisierung der bisherigen Rechtsprechung des Senats).

Schlagwörter: Türkei, Kurden, PKK, Verdacht der Unterstützung, Familienangehörige, HADEP, DEHAP, Mitglieder, Haft, Folter, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Interne Fluchtalternative
Normen: GG Art. 16a; AuslG § 51 Abs. 1
Auszüge:

Als vorverfolgt Ausgereistem ist dem Kläger die Rückkehr in die Türkei nur zuzumuten, wenn er vor einer (erneuten) politischen Verfolgung in einem absehbaren Zeitraum hinreichend sicher wäre. Eine solche Prognose ist hier mit Blick auf sein bisheriges Verfolgungsschicksal, die bekannten Grenzkontrollen bei der Rückkehr abgelehnter kurdischer Asylbewerber und den Verhältnissen in der Türkei im Allgemeinen zu verneinen.

Dabei verkennt der Senat nicht, dass die türkische Regierung und das türkische Parlament - wie bereits ausgeführt - in der letzten Zeit ganz erhebliche Reformanstrengungen auch hinsichtlich der Menschenrechtslage allgemein sowie hinsichtlich der kurdischen Bevölkerung unternommen haben. Andererseits darf nicht außer Acht gelassen werden, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 80, 315 (344 f.) und BVerfGE 54, 341 (360)) das Asylrecht auf dem Rechtsgedanken der Zumutbarkeit beruht. Danach sind Art und Ausmaß der erlittenen Verfolgungsmaßnahmen, auch wenn diese der Vergangenheit angehören, vor allem für die hier erhebliche Frage von Bedeutung, ob dem Asylsuchenden eine Rückkehr in seine Heimat zugemutet werden kann, nachdem der türkische Staat wichtige gesetzgeberische Reformen erlassen und Schritte unternommen hat, um ihre effektive Umsetzung sicherzustellen. "Die Zumutbarkeit einer Rückkehr wird, wenn sich Verfolgungsmaßnahmen bereits früher in der Person des Asylsuchenden verwirklicht haben, nicht zuletzt davon bestimmt, ob eine Wiederholungsgefahr besteht. Mit der Gewährleistung des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG ist es nicht zu vereinbaren, einen Menschen, der schon einmal von Verfolgungsmaßnahmen betroffen war, wiederum der Zugriffsmöglichkeit des Verfolgerstaates auszusetzen, es sei denn, er kann vor erneuter Verfolgung hinreichend sicher sein. Es widerspräche dem humanitären Charakter des Asyls, einem Asylsuchenden, der das Schicksal der Verfolgung bereits einmal erlitten hat, das Risiko einer Wiederholung aufzubürden." (so ausdrücklich: BVerfGE 54, 360).

Diese "Es sei denn"-Einschätzung vermag der Senat hier (noch) nicht zu treffen. Erforderlich hierfür wäre eine grundlegende, stabile und dauerhafte Veränderung der Verhältnisse bei den Kontrollen an der Grenze und bei den türkischen Sicherheitskräften und "dem Staat" generell und landesweit, die auch durch verschiedene unabhängige, sachkundige Beobachter im wesentlichen übereinstimmend und auf längere Sicht festgestellt sein müsste. Hieran fehlt es aber bisher.

Wie oben bereits ausgeführt, wird der Kläger schon bei den Rückkehrkontrollen aller Voraussicht nach auffallen und einer näheren Überprüfung mit persönlicher Befragung sowie ergänzenden Rückfragen bei den zuständigen Sicherheitsbehörden überzogen. Diese Überprüfung wird nicht nur die illegale Ausreise aus der Türkei aufdecken, sondern alle die Umstände, die vor seiner Flucht zu seiner politischen Verfolgung geführt haben. Dabei bedarf keiner weiteren Erörterung die Frage, ob der Kläger danach bereits bei den Grenzkontrollen nicht vor einer asylrelevanten Behandlung hinreichend sicher ist, wie das der Senat bisher in seiner ständigen Rechtsprechung in Fällen der vorliegenden Art angenommen hat. Selbst wenn sich, wofür allerdings auch nach dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 12. August 2003 keine hinreichend verlässlichen Anhaltspunkte bestehen, die Verhältnisse bei den Grenzkontrollen gebessert haben sollten, ändert das an der Einschätzung des Verfolgungsrisikos für ihn nichts Entscheidendes.

Das gilt zum einen hinsichtlich einer in Betracht zu ziehenden Niederlassung in Istanbul oder einer anderen Großstadt der Westtürkei. Wenn auch nähere Angehörige des Klägers zurzeit in Istanbul leben mögen, so ist doch nicht von der Hand zu weisen, dass auch gegenwärtig weiterhin die zuvor beschriebenen Razzien vornehmlich in den Kurdenvierteln stattfinden und der Kläger hierbei auffällt. Für eine andere Einschätzung fehlen dem Senat anders lautende verlässliche Erkenntnisse. Sie setzen im Übrigen eine Verinnerlichung der Reformen und einen Bewusstseinswandel bis hinunter auf die Ebene der einzelnen Polizisten voraus; auch dafür gibt es derzeit aber noch keine hinreichenden Anhaltspunkte.

Zum anderen wird der Kläger auch in seiner Heimatregion und bei seiner Familie, wohin er schon nach der Abschiebung in die Türkei im Jahr 1998 zurückgekehrt ist, nicht hinreichend sicher sein. Die Repressalien, die er bereits vor seiner Flucht aus der Türkei erlitten hatte und auch unmittelbar bevorstanden, wiederholen sich möglicherweise bzw. werden im Nachhinein angewandt, zumal die türkischen Sicherheitskräfte vor Ort aufgrund der Nachfragen der Grenzkontrollen schon im Vorfeld wissen, dass der Kläger wieder in die Türkei eingereist ist.

Im Falle des Klägers kommt hinzu, dass die Familie, zu der er gehört, bis in den (...) nachweisbar den türkischen Sicherheitskräften als missliebig aufgefallen ist und 20 Mitglieder des Clans, zu dem die Familie gehört, wegen des Verdachts der PKK-Unterstützung mehrere Tage festgenommen und intensiv befragt worden sind. In diesem Zusammenhang spielt auch der Vater des Klägers eine Rolle als exponiertes Mitglied zunächst der HADEP und jetzt der DEHAP sowie als stellvertretender Bürgermeister von (...). In dieser herausgehobenen Position werden die türkischen Sicherheitskräfte auf den Vater achten. Das haben sie zudem bereits wiederholt getan, zuletzt mit der Hausdurchsuchung am (...) und dem daraufhin durchgeführten Strafverfahren gegen ihn. Dies muss zwar nicht bedeuten, dass der Kläger in die Repressalien gegen seinen Vater einbezogen werden wird. Aber er wird dadurch im Umfeld seines Vaters wahrgenommen mit der Folge, dass die türkischen Sicherheitskräfte ihn wegen der früheren Vorfälle und seiner politischen Einstellung drangsalieren oder - wie sie es schon vor seiner Flucht aus der Türkei getan haben - ihn zu Spitzeldiensten zwingen wollen.