OVG Mecklenburg-Vorpommern

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Zitieren als:
OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 29.11.2004 - 3 L 66/00 - asyl.net: M5918
https://www.asyl.net/rsdb/M5918
Leitsatz:

Folter im Polizeigewahrsam; zur exilpolitischen Tätigkeit türkischer Staatsangehöriger.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, Kurden, PKK, Sympathisanten, Festnahme, Folter, Glaubwürdigkeit, Nachfluchtgründe, Subjektive Nachfluchtgründe, Exilpolitische Betätigung, Demonstrationen, Flugblätter, Prostestschreiben, Kampagne für die Einführung muttersprachlichen Unterrichts für Kurden, Hamburger Volkshaus, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, Foltergefahr
Normen: AuslG § 51 Abs. 1
Auszüge:

Der Kläger hat den Senat nicht davon überzeugt, daß er persönlich in der Türkei politisch verfolgt worden ist.

Der Kläger hat hinsichtlich seines persönlichen Verfolgungsschicksals in der Türkei in einem zentralen Punkt widersprüchliche Angaben gemacht, die er auch nach intensiver Befragung durch das Oberverwaltungsgericht in der mündlichen Verhandlung nicht aufklären konnte. Die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Ausländergesetz liegen im vorliegenden Einzelfall aber vor, weil wegen einzelner exilpolitischer Aktivitäten der Kläger dieser mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr in die Türkei mit politischer Verfolgung wegen seiner politischen Überzeugungen und Aktivitäten rechnen muss. Die umfangreichen vom Kläger im Einzelnen dargelegten und unter Beweis gestellten Aktivitäten in Deutschland sind weitgehend allerdings ungeeignet, ihm Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 Ausländergesetz zu gewähren. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Senats, dass nicht jede auch unbedeutende politische Betätigung die Gefahr einer politischen Verfolgung nach sich zieht, sondern dass im Wesentlichen an exponierter Stelle agierende exilpolitsche Betätigung die Gefahr einer Verfolgung nach sich ziehen kann (vgl. Urteil vom 29.11.2001 - 3 L 9/95 -; vgl aus neuester Zeit in diesem Sinne und die Rechtsprechung des Senats bestätigend Kaya, Gutachten für das VG Stuttgart vom 15. 09. 2003). Die Masse der von dem Kläger geschilderten exilpolitischen Aktivitäten beschränkt sich auf die Teilnahme an größeren Veranstaltungen, auf denen er keine herausgehobene oder sonst wie sich von der bloßen Teilnahme abhebende Tätigkeit entwickelt hat.

Anderes gilt allerdings für die Versendung des Flugblattes im Rahmen der Kampagne für die Einführung muttersprachlichen Unterrichts für Kurden in den kurdisch besiedelten Gebieten in der Türkei. So hat der Gutachter Oberdiek in seinem Gutachten vom 04. August 2002 ausgeführt, er halte es für sehr wahrscheinlich, dass personenbezogene Daten aus Protestschreiben vom Ausland gesammelt und ausgewertet werden. Weiter hat der Gutachter ausführlich dargestellt, dass die Kampagne zur Einführung des muttersprachlichen Unterrichts für Kurden in den kurdisch besiedelten Gebieten, die auch in der Türkei selbst durchgeführt wurde, zu heftigen Reaktionen der türkischen Sicherheitsbehörden geführt hat. Zahlreiche Menschen wurden deswegen von der Polizei verhaftet. Dabei ist es auch in einer Reihe von Fällen, die der Gutachter aufgeführt hat, zu Misshandlungen in der Polizeihaft gekommen. Die türkischen Sicherheitsbehörden betrachten die Beteiligung an einer solchen Aktion - so der Gutachter Oberdiek - mindestens als "Unterstützung der PKK". Dies führe in der Regel zu einer Bestrafung von 45 Monaten. Zugleich hat der Gutachter aber auch darauf hingewiesen, dass eine große Zahl der zunächst von der Polizei Verhafteten später ohne gerichtliches Verfahren freigelassen worden sind oder aber eine gerichtliche Verurteilung nicht ausgesprochen wurde. Der Gutachter Oberdiek schlussfolgert, dass eine Person, die eine solche Petition an die staatlichen Organe der Türkei geschickt hat, mit Festnahme und Polizeihaft von durchschnittlich zwei Tagen zu rechnen hat, wobei es in dieser Zeit durchaus zu Misshandlungen und Folter kommen kann. Hinzu kommt, dass in der Türkei nach Erkenntnissen des Gutachters Ob. die Mitgliedschaft im Hamburger Volkshaus als Indiz der Anhängerschaft der PKK bewertet werden dürfte.

Zu vergleichbaren Erkenntnissen ist auch der Gutachter Kaya (Gutachten vom 30.08.2002) gekommen.

Aus diesen für den konkreten Einzelfall eingeholten und nur auf ihn bezogenen Gutachten ergibt sich, dass Vieles dafür spricht, dass der Kläger den türkischen Sicherheitsbehörden namentlich bekannt ist und er dort unter dem Verdacht steht, wenigstens Anhänger der PKK zu sein. Solchen Personen droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr in die Türkei Verhaftung durch die Sicherheitsbehörden und Vernehmung unter Anwendung von Folter.

Bei einer Einreise in die Türkei werden auch türkische Staatsangehörige systematisch in der Weise überprüft, das anhand ihrer Ausweispapiere nachgeprüft wird, ob gegen diese Personen etwas aus türkischer Sicht vorliegt. Dabei erstreckt sich diese Überprüfung nicht nur auf Fahndungsersuchen, sondern - wie der Senat bereits in seinem Urteil vom 18. August 1999 - 3 L 159/98 - näher ausgeführt hat - auch darauf, ob sonstige sicherheitsrelevante Informationen über die Einreisenden vorliegen. Für türkische Staatsangehörige, die in Deutschland in herausgehobener Weise politisch aktiv geworden sind, gilt eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass entsprechende Informationen bei den türkischen Grenzbehörden vorliegen. Dieser Personenkreis ist daher in besonderer Weise bei einer Rückkehr in die Türkei der Gefahr ausgesetzt, von den dortigen Grenzbehörden festgenommen und über ihre Aktivitäten und insbesondere Kontakte zu Organisationen befragt zu werden, die aus Sicht der türkischen Sicherheitsbehörden ein Sicherheitsrisiko darstellen. Die Festnahme durch die zuständigen Sicherheitsbehörden und die damit verbundene Polizeihaft ist regelmäßig mit körperlichen Misshandlungen verbunden, die im Einzelfall auch schwerste Gesundheitsschäden bewirken können (vgl. die Angaben in der Dokumentation des Auswärtigen Amtes an das VG Siegmaringen vom 22.12.1998; amnesty international an VG Koblenz vom 15.01.1999; Kaya an VG Siegmaringen vom 15.01.1999). Dass sich diese Gefahrenlage zwischenzeitlich zugunsten des Klägers geändert haben könnte, lässt sich nicht feststellen. Aus neuesten Gutachten lässt sich entnehmen, dass die Sicherheitsbehörden auch, weiterhin weit verbreitet bei der Vernehmung von Personen, die der Unterstützung der PKK oder anderer als staatsfeindlich angesehener Organisationen verdächtigt werden, Folter anwenden, um Informationen oder Geständnisse zu erlangen. Die Bemühungen der türkischen Regierung, diese Praxis zu unterbinden, waren bislang nicht erfolgreich (Kaya, Gutachten für das VG Freiburg v. 30.01.2004, insb. S. 8; Aydin, Gutachten für das VG Aachen v. 29.03.2004, insb. S. 8; arnnesty lnternational, Auskunft an das OVG Münster v. 02.04.2004 - Sache Kaplan; Keskin, Verhandlungsniederschrift v. 03.09.2004 S. 4; deutlich zurückhaltender Auswärtiges Amt an OVG Münster v. 15.03.2004 - Sache Kaplan).

Das Gericht hat bei seiner Würdigung des Einzelfalles berücksichtigt, dass sich der Kläger zunächst an einer Massenkampagne, die europaweit geführt wurde, beteiligt hat. Ob generell eine solche Beteiligung an einer Massenkampagne, die Ziele verfolgt, die von den Sicherheitsbehörden in der Türkei als sicherheitsrelevant eingestuft werden, die Gefahrenprognose rechtfertigt, dass bei einer Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine politische Verfolgung droht, kann hier offen bleiben. Denn der konkrete Einzelfall des Klägers liegt besonders. Er hat individuell entsprechende Erklärungen an verschiedene staatliche Behörden in der Türkei geschickt, nachdem seine Beteiligung an der Massenkampagne nicht nachgewiesen werden konnte. Zudem hat sich der Kläger individuell an einer in der Türkei ebenfalls geführten Kampagne beteiligt, die in der Türkei selbst zum massiven Einschreiten der Sicherheitsbehörden geführt hat.

Schließlich kommt noch hinzu, dass der Kläger sich durch seine individuellen Aktivitäten als Aktivist des Hamburger Volkshauses darstellt und diese Organisation in den Augen der türkischen Sicherheitsbehörden als PKK-nah anzusehen ist. In Kombination dieser Einzelumstände spricht bei allen Unwägbarkeiten in der Prognose Überwiegendes dafür, dass der Kläger den türkischen Sicherheitsbehörden als eine Person aufgefallen ist, die in Deutschland in Verbindungen zur PKK steht. Solche den türkischen Sicherheitsbehörden in dieser Weise aufgefallenen türkischen Staatsangehörigen werden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in der Türkei durch die Polizei - unabhängig davon, ob ihr Handeln in der Türkei strafbar ist - mit den in der Türkei - weiterhin - verbreitet angewandten Methoden, insbesondere körperlicher Gewalt und Misshandlung zu ihren Verbindungen zur PKK bzw. ihren Kenntnissen über die PKK in Deutschland befragt. Dass diese Misshandlungen den Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AsylVfG begründen, bedarf keiner näheren Begründung.