VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Beschluss vom 31.01.2005 - A 10 K 13481/04 - asyl.net: M6163
https://www.asyl.net/rsdb/M6163
Leitsatz:
Schlagwörter: Serbien und Montenegro, Kosovo, Ashkali, Folgeantrag, Gebietsgewalt, KFOR-Truppen, UNMIK, Verfolgung durch Dritte, Mittelbare Verfolgung, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, Gesetzesänderung, Zuwanderungsgesetz, Änderung der Rechtslage, Nichtstaatliche Verfolgung, Märzunruhen, Interne Fluchtalternative, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Einstweilige Anordnung
Normen: AsylVfG § 71 Abs. 1; VwVfG § 51; AsylVfG § 71 Abs. 5 S. 2; VwGO § 80; VwGO § 123; GG Art. 16a; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs.1 S. 4 Bst. c
Auszüge:

Soweit der Antragsteller seine Anerkennung als Asylberechtigter gemäß Art. 16 a Abs. 1 GG begehrt, liegen die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nicht vor.

Er stützt sein Begehren auf die Zugehörigkeit zur Minderheit der Ashkali, die er auch im Erstverfahren angegeben hat. Die Gruppe der Ashkali sei durch Übergriffe albanischer Volkszugehöriger im Kosovo gefährdet. Die Gefahr einer unmittelbaren (staatlichen) politischen Verfolgung im Kosovo allein auf Grund der Zugehörigkeit zu den Ashkali kann aber ausgeschlossen werden. Organe der Republik Serbien und Montenegro scheiden, da sie mit dem Einmarsch der KFOR-Truppen ihre Gebietsgewalt im Kosovo verloren haben, als Urheber einer politischen Verfolgung im Kosovo von vornherein aus (vgl. z. B. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.04.2000 A 14 S 2559/98 m.w.N.). Auch eine im Rahmen des Art. 16 a Abs. 1 GG erhebliche mittelbare staatliche Verfolgung hat der Antragsteller nicht zu befürchten. Verfolgungsmaßnahmen Dritter kommen als politische Verfolgung im Sinne des Artikel 16 a Abs. 1 GG nur dann in Betracht, wenn sie dem jeweiligen Staat zuzurechnen sind (vgl. BVerfG, Beschluss vom 2.7.1980, BVerfGE 54, 341, 358; Beschluss vom 1.7.1997, BVerfGE 70, 143,169). Nach ständiger Rechtsprechung sind Übergriffe Privater dem Staat als mittelbare staatliche Verfolgung im Rahmen des Art. 16 a Abs. 1 keinen effektiven Schutz gewährt. Dies ist nur dann der Fall, wenn staatliche Organe die Übergriffe unterstützt, gebilligt oder tatenlos hingenommen haben. Der Umstand allein, dass staatliche Organe trotz prinzipieller Schutzbereitschaft nicht in der Lage sind, die betroffene Bevölkerungsgruppe vor derartiger Verfolgung Dritter wirkungsvoll zu schützen, begründet eine staatliche Verantwortlichkeit insoweit nicht (vgl. z. B. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.4.2000, a.a.O. m.w.N.). Nach diesen Maßstäben scheidet hier die Annahme einer mittelbaren staatlichen Verfolgung aus. Denn es fehlt an jeglichen Anhaltspunkten, dass entsprechende Übergriffe von den derzeit im Kosovo die alleinige Herrschaftsgewalt ausübenden KFOR-Truppen bzw. der UNMIK-Verwaltung unterstützt, gebilligt oder tatenlos hingenommen würden (vgl. hierzu VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.4.2000, a.a.O.; OVG Lüneburg, Urteil vom 18.9.2001 - 13 LB 2442/01 -).

Der Antragsteller hat aber einen Anspruch auf Feststellung einer Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 1 AufenthG, denn insoweit hat sich die Rechtslage i.S.d. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG durch das Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes zum 01.01.2005 nachträglich zu seinen Gunsten geändert.

Auf der Grundlage dieser Rechtsänderung ergibt sich, dass der Antragsteller einen Anspruch auf eine Feststellung gemäß § 60 Abs. 1 AufenthaltsG hinsichtlich Serbien und Montenegro hat.

In § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthaltsG wird anders als im bisherigen § 51 Abs. 1 AuslG ausdrücklich auf das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.07.1951 (Genfer Konvention) Bezug genommen. Die Sätze 2 - 5 verdeutlichen darüber hinaus, dass der Schutz des Abkommens auch auf Fälle von nichtstaatlicher Verfolgung erstreckt werden soll. Auch insoweit schließt sich Deutschland damit nunmehr der Auffassung der überwiegenden Zahl der Staaten in der Europäischen Union an (vgl. Reg.Entwurfsbegründung BT-Drucks. 15/420, S. 91). Wenn nunmehr in § 60 Abs. 1 Satz 4 c) AufenthaltsG ausdrücklich bestimmt wird, dass eine Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthaltsG auch von "nichtstaatlichen Akteuren" ausgehen kann, sofern der Staat einschließlich internationaler Organisationen "erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten", stellt dies einen Perspektivwechsel von der "täterbezogenen" Verfolgung im Sinne der von der Rechtsprechung zu Art. 16 a GG und § 61 Abs. 1 AuslG entwickelten "mittelbaren staatlichen Verfolgung" zur "opferbezogenen" Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention und damit von der "Zurechnungslehre" zur "Schutzlehre" dar (vgl. dazu Marx, Handbuch zur Asyl- und Flüchtlingsanerkennung, Losebl., Stand 2000, § 33 Rdnrn. 116 ff., bzw. Marx, ZAR 2001, 12 ff). Dies hat über das Begriffliche hinaus auch inhaltliche Konsequenzen. Der in § 60 Abs. 1 AufenthG festgelegte Standard beruht nicht auf der Zurechnungslehre, deren Zweck darin besteht, die Verantwortlichkeit des Staates für ein völkerrechtliches Delikt festzulegen und die der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgericht zur "mittelbaren staatlichen Verfolgung" zugrunde liegt. Vielmehr geht es im Sinne der Schutzlehre darum, einen effektiven Schutz vor Verfolgung zu gewährleisten, und zwar unabhängig davon, ob die Verfolgungshandlung einem staatlichen Träger zugerechnet werden kann oder nicht.

Kommt es auf die Zurechenbarkeit im Sinne der "mittelbaren staatlichen Verfolgung" nach der neuen Rechtslage nicht mehr an, kann danach politische Verfolgung durch Dritte auch vorliegen, wenn der Staat bzw. die internationalen Organisationen trotz prinzipieller Schutzbereitschaft Personen oder Gruppen vor der Verfolgung durch Dritte nicht effektiv schützen können. Verfolgungsmaßnahmen Dritter, die bisher nur bei § 53 Abs. 6 AuslG (nunmehr § 60 Abs. 7 AufenthaltsG) berücksichtigt werden konnten, können nunmehr im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthaltsG erheblich sein, wenn der Staat bzw. die internationalen Organisationen "erwiesenermaßen" nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.

Im Blick auf diese Vorgaben stellt sich nach den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen die Lage der Roma, Ashkali bzw. Ägypter im Kosovo folgendermaßen dar:

Nach der UNHCR-Position vom 30.03.2004 haben schwere Sicherheitsvorfälle Mitte März 2004 zu einer Eskalation der ethnisch motivierten Gewalt im gesamten Kosovo geführt und die Region an den Rand eines bewaffneten Konflikts gebracht. Die Vorfälle waren die schlimmsten ethnisch motivierten Auseinandersetzungen seit 1999. Sowohl die UNMIK als auch die provisorische Selbstverwaltung des Kosovo und die KFOR wurden von der flächendeckenden und systematischen Natur der Gewalttaten überrascht. Die KFOR, die Polizei der UNMIK und die Kosovo-Polizei (KPS) kämpften während der ersten Welle der Angriffe in erster Linie darum, die Kontrolle zu behalten. Sie konnten den Schutz der Minderheiten, ihres Eigentums und der öffentlichen Einrichtungen nicht gewährleisten. Den NATO-Truppen war es erst nach Entsendung von 2000 Mann Verstärkung möglich, die Gewalt einzudämmen.

Die betroffenen Ashkali erlitten nicht nur Vertreibung, Verlust ihrer Eistenzgrundlage, Schläge und Misshandlungen, sondern ihnen drohte nach den genannten Quellen während der Ausschreitungen konkret auch Vergewaltigung und Ermordung. In der aufgeheizten Situation mussten sie zum Schutz vor der Gefahr für Leib und Leben in ihrer Heimat gleichsam unter dem Schutz von Nato-Truppen in Militärlagern interniert werden. Bei den Ausschreitungen konnte selbst dieser militärische Schutz die Tötung und schwere Verletzung von Serben nicht verhindern. Dass es bei den Ashkali anscheinend keine Todesfälle gab, erscheint in dem Zusammenhang eher zufällig.

Auf dieser Tatsachengrundlage ist davon auszugehen, dass Angehörige der Minderheiten bei einer Rückkehr in den Kosovo in die erhebliche Gefahr geraten würden, Opfer solcher von den staatlichen bzw. internationalen Organisationen nicht effektiv beherrschbaren Übergriffe zu werden. Dies reicht für die Annahme aus, es drohe im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 c) AufenthaltsG wegen der Zugehörigkeit zu diesen Minderheiten "erweislich" Verfolgung durch "nichtstaatliche Akteure", gegen die internationale Organisationen Schutz zu bieten nicht in der Lage sind. Soweit der Begriff "erweislich", der aus der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 Qualifikationsrichtlinie (Abl. L 304 v. 30.09.2004, S. 12) ins Aufenthaltsgesetz übernommen worden ist, im Schrifttum erläutert wird (vgl. Marx, Asylmagazin 9/2004, 8, 11; s. auch Marx, Ausländer- und Asylrecht, a.a.O., zu Art. 7 und 8 der Qualifikationsrichtlinie, Rdnr. 95 119: Duchrow, ZAR 2004, 339; 341), wird darauf abgehoben, dass der Flüchtling erfahrene Schutzverweigerung bzw. Schutzlosigkeit darlegen bzw. nachweisen müsse. Wenn, wie die der vorliegenden Fallgestaltung, auf Grund nach der Ausreise eingetretener tatsächlicher Änderungen Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure droht, ist ein solcher Nachweis nicht zu führen. "Erweislich" ist eine Verfolgung bei dieser Fallgestaltung aber jedenfalls dann, wenn auf Grundlage einer prognostischen Bewertung der Erkenntnislage die zu Art. 16 a Abs. 1 GG entwickelten Kriterien vorliegen.

Angesichts der Heftigkeit, der Zahl der handelnden nichtstaatlichen Akteure und des Hintergrunds der Übergiffe vom März 2004, der nach der Erkenntnislage weitere derartige Übergriffe befürchten lässt, kann nicht von einer bloß theoretischen Möglichkeit einer Verfolgung der Minderheiten ausgegangen werden. mach dem Ablauf der in zahlreichen Orten erfolgten Übergriffe kann der Antragsteller auch nicht auf ein regionales Ausweichen innerhalb des Kosovo verwiesen werden.

Es besteht auch keine inländische Fluchtalternative i.S.d. § 60 Abs. 1 Satz 4 C) AufenthaltsG im restlichen Serbien oder in Montenegro.