VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 17.01.2005 - A 10 K 10587/04 - asyl.net: M6172
https://www.asyl.net/rsdb/M6172
Leitsatz:

Zur Flüchtlingsanerkennung gem. § 60 Abs. 1 AufenthG wegen nichtstaatlicher Verfolgung; Orientierung an effektivem Schutz, nicht an der Zurechnung völkerrechtlichen Unrechts; jedenfalls dann kein staatlicher Schutz vor nichtstaatlicher Verfolgung, wenn reale Möglichkeit der Verfolgung besteht; Flüchtlingsanerkennung für Angehörige von Minderheiten aus dem Kosovo.

 

Schlagwörter: Serbien und Montenegro, Kosovo, Roma, Ägypter, Folgeantrag, Gesetzesänderung, Zuwanderungsgesetz, Änderung der Rechtslage, Gebietsgewalt, UNMIK, KFOR-Truppen, Verfolgung durch Dritte, Mittelbare Verfolgung, Zurechenbarkeit, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, Nichtstaatliche Verfolgung, Märzunruhen, Interne Fluchtalternative, Existenzminimum
Normen: AsylVfG § 71 Abs. 1; VwVfG § 51; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1 S. 4 Bst. c); GG Art. 16a
Auszüge:

Zur Flüchtlingsanerkennung gem. § 60 Abs. 1 AufenthG wegen nichtstaatlicher Verfolgung; Orientierung an effektivem Schutz, nicht an der Zurechnung völkerrechtlichen Unrechts; jedenfalls dann kein staatlicher Schutz vor nichtstaatlicher Verfolgung, wenn reale Möglichkeit der Verfolgung besteht; Flüchtlingsanerkennung für Angehörige von Minderheiten aus dem Kosovo.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage ist aber im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung insoweit begründet, als die Klägerin ein Wiederaufgreifen des Verfahrens im Hinblick auf die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt, denn insoweit hat sich die Rechtslage i.S.d. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG durch das Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes zum 01.01.2005 nachträglich zu ihren Gunsten geändert. Der Klägerin steht ein solcher Anspruch auch in der Sache zu.

Grundlage der gerichtlichen Prüfung ist dabei das Asylverfahrensgesetz i.d.F. der Änderungen durch Art. 3 ZuwanderungsG und das gem. Art. 1 ZuwanderungsG an die Stelle des Ausländergesetzes getretene Aufenthaltsgesetz. Übergangsvorschriften für das verwaltungsgerichtliche Verfahren enthält das Zuwanderungsgesetz nicht, so dass dieses mit Inkrafttreten in diesen Verfahren zu beachten ist.

Auf der Grundlage dieser Rechtsänderung ergibt sich, dass die Klägerin gegen die Beklagte einen Anspruch auf eine Feststellung gemäß § 60 Abs. 1 AufenthaltsG hinsichtlich Serbien und Montenegro hat.

In § 60 Abs. a Satz 1 AufenthaltsG wird anders als im bisherigen § 51 Abs. 1 AuslG ausdrücklich auf das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.07.1951 (Genfer Konvention, BGBl. 1953 II S. 559) Bezug genommen. Die Sätze 3-5 verdeutlichen darüber hinaus, dass der Schutz des Abkommens auch auf Fälle von nichtstaatlicher Verfolgung erstreckt werden soll. Auch insoweit schließt sich Deutschland damit nunmehr der Auffassung der überwiegenden Zahl der Staaten in der Europäischen Union an (vgl. Referentenentwurfsbegründung BTDs. 15/420, S. 91). Wenn nunmehr in § 60 Abs. 1 Satz 4 c) AufenthaltsG ausdrücklich bestimmt wird, dass eine Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthaltsG auch von "nichtstaatlichen Akteuren" ausgehen kann, sofern der Staat einschließlich internationaler Organisationen "erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten", stellt dies einen Perspektivwechsel von der "täterbezogenen" Verfolgung im Sinne der von der Rechtsprechung zu Art. 16 a GG und § 51 Abs. 1 AuslG entwickelten "mittelbaren staatlichen Verfolgung" zur "opferbezogenen" Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvertion und damit von der "Zurechnungslehre" zur "Schutzlehre" dar (vgl. dazu Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 119 und ausführlich Marx, Handbuch zur Asyl- und Füchtlingsanerkennung, Losebl., Stand 2000, § 33 Rdnr. 118 ff., bzw. Marx, ZAR 2001, 12 ff.).

Kommt es auf die Zurechenbarkeit im Sinne der "mittelbaren staatlichen Verfolgung" nach der neuen Rechtslage nicht mehr an, kann danach politische Verfolgung durch Dritte auch vorliegen, wenn der Staat bzw. die Internationalen Organisationen trotz prinzipieller Schutzbereitschaft Personen oder Gruppen vor der Verfolgung durch Dritte nicht effektiv schützen können. Verfolgungsmaßnahmen Dritter, die bisher nur bei § 53 Abs. 6 AuslG (nunmehr § 60 Abs. 7 AufenthaltsG) berücksichtigt werden konnten, können nunmehr im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthaltsG erheblich sein, wenn der Staat bzw. die internationalen Organisationen "erwiesenermaßen" nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.

Im Blick auf diese Vorgaben stellt sich nach den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen die Lage der Roma, Ashkali bzw. Ägypter im Kosovo folgendermaßen dar:

Nach UNHCR-Positon vom 30.03.2004 haben schwere Sicherheitsvorfälle Mitte März 2004 zu einer Eskalation der ethisch motivierten Gewalt im gesamten Kosovo geführt und die Region an den Rand eines bewaffneten Konflikts gebracht. Die Vorfälle waren die schlimmsten ethnisch motivierten Auseinandersetzungen seit 1999. Sowohl die UNMIK als auch die provisorische Selbstverwaltung des Kosovo und die KFOR wurden von der flächendeckenden und systematischen Natur der Gewalttaten überrascht. Die KFOR, die Polizei der UNMIK und die Kosovo-Polizei (KPS) kämpften während der ersten Welle der Angriffe in erster Linie darum, die Kontrolle zu behalten. Sie konnten den Schutz der Minderheiten, ihres Eigentums und der öffentlichen Einrichtungen nicht gewährleisten. Den NATO-Truppen war es erst nach Entsendung von 2000 Mann Verstärkung möglich, die Gewalt einzudämmen. Unter den Binnenvertriebenen fanden mehr als 1000 Zuflucht in verschiedenen KFOR-Lagern, während die Übrigen in öffentlichen Gebäuden oder Privathaushalten untergebracht wurden und von Truppen geschützt werden mussten. Vielerorts waren auch Ashkali betroffen.

Ein Vermerk des deutschen Verbindungsbüros Kosovo vom 02.04.2004 sagt deutlich, was auch die Analyse des Informationszentrum Asyl und Migration vom 05.04.2004 und die UNHCR-Position vom 30.03.2004 andeuten, nämlich dass es sich bei den Unruhen nicht um spontane Gewaltsausbrüche einzelner isolierter Gruppen, sonder um ein koordiniertes und zielgerichtetes Handeln von bisher unbekannten Strukturen handelt, gegen das die KFOR-Truppen auch in der nächsten Zukunft keinen effektiven Schutz gewährleisten können.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) weist in ihrem Update zur Situation der ethnischen Minderheiten vom 24.05.2004 darauf hin, dass die internationalen Truppen während der letzten zwei Jahre vor den März-Ereignissen von 45 000 auf 17 500 Personen reduziert worden waren und schon dadurch der physische Schutz der Minderheiten immer mehr gesunken war. Bei den Ereignissen vom März 2004 habe sich die KFOR im Hinblick auf ihre Aufgabenstellung und Ausrüstung als unfähig erwiesen, eine Vertreibung der Minderheiten zu verhindern.

Auf dieser Tatsachengrundlage ist davon auszugehen, dass Angehörige der Minderheiten, zu denen die Klägerin gehört, bei einer Rückkehr in den Kosovo in die erhebliche Gefahr geraten würden, Opfer solcher von den staatlichen bzw. internationalen Organisationen nicht effektiv beherrschbarer Übergriffe zu werden. Dies reicht für die Annahme aus, der Klägerin drohe im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 c) AufenthaltsG wegen ihrer Zugehörigkeit zu diesen Minderheiten "erweislich" Verfolgung durch "nichtstaatliche Akteure", gegen die internationale Organisationen Schutz zu bieten nicht in der Lage sind. Soweit der Begriff "erweislich", der aus er Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 Qualifikationsrichtlinie (Abl. L 304 v. 30.09.2004, S. 12) ins Aufenthaltsgesetz übernommen werden ist, im Schrifttum erläutert wird (vgl. Marx, Asylmagazin 9/2004, 8, 1; s. auch Marx, Ausländer- und Asylrecht, a.a.O., zu art. 7 und 8 der Qualifikationsrichtlinie, Rdnr. 95 119; Duchrow, ZAR 2004, 339, 341), wird darauf abgehoben, dass der Flüchtling erfahrene Schutzverweigerung bzw. Schutzlosigkeit darlegen bzw. nachweisen müsse. Wenn, wie bei der vorliegenden Fallgestaltung, auf Grund nach der Ausreise eingetretener tatsächlicher Änderungen Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure droht, ist ein solcher Nachweis nicht zu führen. "Erweislich" ist eine Verfolgung bei dieser Fallgestaltung aber jedenfalls dann, wenn auf Grundlage einer prognostischen Bewertung der Erkenntnislage die zu Art. 16 a Abs. 1 GG entwickelten Kriterien vorliegen.

Angesichts der Heftigkeit, der Zahl der handelnden nichtstaatlichen Akteure und des Hintergrunds der Übergriffe vom März 2004, der nach der Erkenntnislage weitere derartige Übergriffe befürchten lässt, kann nicht von einer bloß theoretischen Möglichkeit einer Verfolgung der Minderheiten ausgegangen werden. Nach dem Ablauf der in zahlreichen Orten erfolgten Übergriffe kann die Klägerin auch nicht auf ein regionales Ausweichen innerhalb des Kosovo verwiesen werden.

Für die Klägerin besteht auch keine inländische Fluchtalternative i.S.d. § 60 Abs. 1 Satz 4 c) AufenthaltsG im restlichen Serbien oder in Montenegro. Nach den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen spricht alles dafür, dass die Klägerin nicht in der Lage sein wird, im restlichen Serbien und Montenegro ihre Existenz zu sichern und dort eine menschenwürdige neue Heimat zu finden.