VG Regensburg

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Zitieren als:
VG Regensburg, Urteil vom 17.01.2005 - RN 3 K 04.30591 - asyl.net: M6173
https://www.asyl.net/rsdb/M6173
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Christen, Flüchtlingsanerkennung, Widerruf, Gesetzesänderung, Zuwanderungsgesetz, Mittelbare Verfolgung, Nichtstaatliche Akteure, Gruppenverfolgung, Verfolgungsdichte, Schutzfähigkeit, Internationale Organisationen, Vereinte Nationen, Interne Fluchtalternative, Nordirak, Religiöses Existenzminimum, Existenzminimum
Normen: AuslG § 51 Abs. 1; AsylVfG § 73; AufenthG § 60 Abs. 1 S. 4 Bst. c
Auszüge:

Der streitgegenständliche Widerruf der mit Bescheid vom 27. August 2001 getroffenen Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 51 Abs. 1 AuslG und von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG findet in § 73 AsylVfG keine Rechtsgrundlage mehr, weil zum 1. Januar 2005 die §§ 51 und 53 AuslG durch § 60 Aufenthaltsgesetz ersetzt wurden.

Diese neue Rechtslage ist nach § 77 Abs. 2 AsylVfG bei Anfechtungsklagen gegen vor In-Kraft-Treten des Aufenthaltsgesetzes ergangenen Bundesamtsentscheidungen anzuwenden. Dies stellt auch § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG klar.

Nachdem durch § 60 Abs. 1 AufenthG der frühere § 51 Abs. 1 AuslG ersetzt wurde, ist vom Gericht in einer Anfechtungsklage gegen Widerrufsentscheidungen, die unter Geltung des früheren Rechts ergangen sind, zu prüfen, ob nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht mehr vorliegen.

Der Kläger ist ein Christ aus dem Irak. Bei Christen im Irak liegen aber die Voraussetzungen einer nichtstaatlichen Verfolgung nach § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe c) AufenthG vor.

Aufgrund der ihm vorliegenden Erkenntnisquellen stellt sich für das Gericht die Situation im Irak für Christen wie folgt dar: .......

Unter Gewichtung und Abwägung all dieser Umstände ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung eine Verfolgung des Klägers im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe c) AufenthG durch nichtstaatliche Akteure bei einer Rückkehr in den Irak bereits deshalb anzunehmen ist, weil der Kläger der christlichen Minderheit des Landes angehört. Die von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aufgestellten Voraussetzungen für eine Gruppenverfolgung sind - abgesehen von einer staatlichen Verfolgung - zu bejahen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung durch Dritte setzt danach jedenfalls voraus, dass die Gruppenmitglieder Rechtsgutbeeinträchtigungen erfahren, aus deren Intensität und Häufigkeit jedes einzelne Gruppenmitglied die begründete Furcht herleiten kann, selbst alsbald ein Opfer solcher Verfolgungsmaßnahmen zu werden. Gruppengerichtete Verfolgungen, die von Dritten ausgehen, brauchen aber nicht ein ganzes Land gewissermaßen flächendeckend zu erfassen.

Unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung und der derzeitigen Lage im Irak haben die nach dem Regimewechsel im Irak bereits aufgetretenen Angriffe und Diskriminierungen der Christen im Irak die für eine Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte erreicht. So kommt es seit Mai 2003 nicht nur immer wieder zu Übergriffen auf Alkoholläden und auf deren zumeist christlichen Besitzer. Christen sind auch überdurchschnittlich oft Opfer von Entführungen und Erpressungen. Sie sind auch bevorzugtes Angriffsziel von Extremisten oft in Verbindung mit dem Vorwurf der Kollaboration mit den Besatzungstruppen. Bei der Religionsausübung in Kirchen müssen Christen mit Terroranschlägen rechnen. Schließlich sind in der letzten Vergangenheit bis zu 40.000 Christen aus dem Irak geflohen. Die Verfolgung knüpft zwar nicht nur am Merkmal des Christentums an, sondern Christen werden auch nur deshalb häufig Opfer von Erpressungen, weil sie der reicheren Gesellschaftsschicht des Iraks angehören oder Opfer von Anschlägen von islamischen Terroristen, weil man ihnen Kollaboration mit den Besatzungstruppen vorwirft und um einen Keil zwischen Muslime und Christen im Irak zu schlagen. Die Verfolgung knüpft also häufig nicht an ein bestimmtes Verhalten oder Anlass an. Dadurch wird für den Einzelnen die Gefahr umso größer und - hinsichtlich ihrer Aktualität - unkalkulierbarer, weil sie ausschließlich an kollektive, dem einzelnen unverfügbare Merkmale anknüpft. Erpressungen, Geiselnahmen und Anschläge auf Christen, kamen in der letzten Zeit sehr häufig vor. Hinzu kommt eine hohe Dunkelziffer, weil Anzeigen wegen der Ineffizienz der Polizei nicht gemacht werden. Allgemein leben Christen im Irak in einem Klima zunehmender gesellschaftlicher Verachtung, das Verfolgungshandlungen in den Augen der Verfolger rechtfertigt oder doch tatsächlich begünstigt. Insgesamt sind somit die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung der Christen im Irak gegeben. Auch wenn christliche Institutionen im Irak weiterhin einen Verbleib der Christen im Irak befürworten (so Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2.11.2004), sprechen doch die oben dargestellten Fakten, insbesondere die Zahl von 40.000 christlichen Flüchtlingen in letzter Zeit und die insgesamt instabile Sicherheits- und Rechtslage im Irak, dagegen, dass immer noch keine Gruppenverfolgung im Irak vorliegt.

Tatsachen, die die Regelvermutung im Falle des Klägers widerlegen könnte, sind jedenfalls nicht vorhanden. Es handelt sich hier um keine staatliche oder dem Staat zurechenbare Verfolgung, sondern um eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe c) AufenthG.

Der derzeitige irakische Staat einschließlich internationaler Organisationen sind auch erwiesenermaßen nicht in der Lage, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.

Es besteht im Irak für Christen auch keine innerstaatliche Fluchtalternative. Zwar haben sich Christen zunächst in den Nordirak zurückgezogen. Aus den oben genannten Berichten ist zu entnehmen, dass sie aber auch zwischenzeitlich den Nordirak verlassen, zumal - wie oben dargestellt - auch im Nordirak Diskriminierungen und Benachteiligungen von Christen vorkommen. Zudem ist nach Einschätzung des UNHCR im Bericht vom Oktober 2004 das Bestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative abzulehnen. Wohnortwechsel in bestimmte Gebiete des Iraks sind sowohl aufgrund von logistischen Beschränkungen als auch aufgrund von Sicherheitsdefiziten häufig praktisch unmöglich oder unsicher. Überdies kann ein Umzug angesichts der landesweit bestehenden Schutzunfähigkeit (so UNHCR) der irakischen Behörden derzeit nicht als hinreichende Maßnahme zur Abwendung drohender Verfolgungsgefahren angesehen werden.

Auch aus der Auskunft von Eva Savelsberg und Siamend Hajo (Europäisches Zentrum für kurdische Studien) vom 2. November 2004 an das VG Regensburg ist über die Situation der Christen im Nordirak zu entnehmen, dass islamische Gruppen an der Universität Mossul Plakate klebten, auf denen zu lesen war, dass Frauen sich "anständig", d.h. islamisch zu kleiden hätten. Einige Personen haben das Studium an der Mossuler Universität aufgrund solcher und ähnlicher Repressionen bereits aufgegeben. Im Oktober 2004 - mit Beginn des Fastenmonats Ramadan (15.10.) -, waren an mehreren Moscheen in verschiedenen Stadtteilen Mossuls Plakate angebracht, auf denen zu lesen war, dass diese Gruppe gezwungen wird, sich religiösen Regeln zu unterwerfen, die nicht die ihren sind. Personen, die gegen diese Vorgaben verstießen, wurden unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit von der Polizei festgenommen.