VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 12.01.2005 - 12 A 2519/02 - asyl.net: M6256
https://www.asyl.net/rsdb/M6256
Leitsatz:
Schlagwörter: Serbien und Montenegro, Kosovo, Roma, Krankheit, Herzerkrankung, Gastritis, Chronisches LWS-Syndrom, Hypercholesterinanämie, Gesetzesänderung, Zuwanderungsgesetz, Mittelbare Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Nichtstaatliche Akteure, Gebietsgewalt, Märzunruhen, Anschläge, Übergriffe, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Allgemeine Gefahr, Extreme Gefahrenlage, Sicherheitslage, Versorgungslage, Medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, Niederlassungsfreiheit, Registrierung
Normen: GG Art. 16a; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

Die Kläger haben keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte nach Art. 16a Abs. 1 GG oder auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung, dass die Voraussetzungen des am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen und hier gemäß § 77 Abs. 1 S. 1 2. HS AsylVfG maßgeblichen § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen.

Eine politische Verfolgung der Kläger als Angehörige der Gruppe der Roma gem. § 51 AuslG, entsprechend § 60 Abs. 1AufenthG im Kosovo ist nach Beendigung des Kosovo-Krieges Mitte 1999 auszuschließen.

Seit dem Abzug der staatlichen Organe der damaligen Bundesrepublik Jugoslawien im Juli 1999 üben nunmehr UNMIK (UN-Mission im Kosovo) und KFOR (Kosovo-Force) die alleinige Staats- und Gebietsgewalt aus. Diese Kräfte gewähren einschließlich der zur Verfügung stehenden internationalen Polizeitruppe grundsätzlich allen im Kosovo lebenden Bevölkerungsgruppen mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln Schutz. Eine Verfolgung der Kläger durch diese staatlichen Organe ist auszuschließen. Es kann aus den im angefochtenen Bescheid aufgeführten Gründen, denen der Einzelrichter folgt, weiterhin nicht angenommen werden, dass eine Organisation der albanischen Bevölkerungsmehrheit eine staatsähnliche Herrschaftsmacht im Kosovo oder Teilen davon mit der Folge etabliert hat, dass die dort lebende Bevölkerung einer anderweitigen quasi staatlichen Hoheitsgewalt unterworfen ist (vgl. auch Nds. OVG, Beschluss vom 19. Mai 2004 - 8 LA 92/04 -; Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg vom 27. Januar 2004 - 12A606/03 -).

Gegenteiliges kann auch nicht den Ausschreitungen Mitte März 2004 entnommen werden. Hierbei ist es überwiegend zu Übergriffen von Kosovo-Albanern gegen Serben gekommen; aber auch Angehörige ethnischer Minderheiten sind Opfer von gezielten Übergriffen geworden. Dies rechtfertigt jedoch nicht die Annahme, dass hierdurch die KFOR und UNMIK ihre staatliche Hoheitsgewalt über den Kosovo verloren hätten. Vielmehr verstärkte die KFOR ihre militärische Präsenz im Kosovo umgehend, so dass die Unruhen binnen weniger Tage beendet waren.

Ebenso liegen die Voraussetzungen für eine Verpflichtung der Beklagten, Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG, der dem § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG entspricht, allein wegen ihrer Volkszugehörigkeit festzustellen, nicht vor.

Hineichende Anhaltspunkte für die Annahme einer extremen Gefahrenlage liegen für Angehörige der Roma, Ägypter und Ashkali im Kosovo nicht vor.

Aus den vorliegenden Erkenntnismitteln lässt sich zusammenfassend weder in quantitativer noch in qualitativer Hinsicht entnehmen, dass aufgrund der Sicherheitslage und der besonders schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Lage der Minderheitenangehörigen für jedes Mitglied der Gruppe mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die aktuelle Gefahr besteht, bei einer Rückkehr in den Kosovo dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert zu sein. Die Situation für Angehörige der Gruppen der Roma und Ashkali im Kosovo hat sich in den vergangenen Jahren nicht derart verschlechtert, so dass eine Extremgefahr im oben beschriebenen Sinne weiterhin nicht gegeben ist. Eine Gesamtschau der Erkenntnismittel führt zu dem Ergebnis, dass eine extreme allgemeine Gefahrenlage, die bei verfassungskonformer Auslegung und Anwendung des § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG im Rahmen der Feststellung zu § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG zu berücksichtigen wäre, im Kosovo auch für Angehörige der Bevölkerungsgruppen der Roma und Ashkali nicht besteht (ebenso zu § 53 Abs. 6 AuslG: Nds. Oberverwaltungsgericht, Beschlüsse vom 30. April 2004 - 8 LA 102/04 -, vom 20, August 2003 - 8 LA 126/03 - und vom 22. November 2001 - 8 LB 2106/01 - m. w. N. der Rechtsprechung).

Ausreichende Anhaltspunkte für das Vorliegen eines konkret individuellen Abschiebungshindernisses gem. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG liegen zugunsten des Klägers zu 1) ebenfalls nicht vor; hinsichtlich der Klägerin zu 2) sind sie jedoch gegeben.

Für die Klägerin zu 2) ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten, dass sich ihr Gesundheitszustand im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat alsbald wesentlich verschlechtern wird, so dass eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben anzunehmen ist. Zwar sind Ihre Erkrankungen grds. einschließlich der erforderlichen Medikation im Kosovo behandelbar. Laut der von ihr vorgelegten Atteste und ärztlichen Bescheinigungen, insbesondere durch die Gemeinschaftspraxis x vom 5. April 2004, leidet sie an einem chronischen Cor pulmunale, einer Linksherzinsuffizienz, einer rezidivierenden Gastritis, einer Hypercholesterinanämie und einem chronischen LWS-Syndrom. Laut Attest besteht die Behandlung aus regelmäßigen Elektrokardiogrammen, regelmäßigen Injektionen und einer Schmerztherapie (oral) sowie der regelmäßigen Gabe von Magentabletten, Schmerzmitteln und Cholesterinsenkern. Einer weiteren Bescheinigung der genannten Gemeinschaftspraxis vom 19. April 2004 ist zu entnehmen, dass die Klägerin zu 2) auf die regelmäßige Medikamentengabe von: Beta Acetyldig 0,2, Ibuprof 800 retard, Simvastatin 40 und lasix 40 angewiesen ist.

Im Kosovo können zunächst Atemwegserkrankungen, insbesondere obstruktive Bronchitiden, im Notfall auch unter Gabe von Cortison behandelt werden (vgl. Auskunft des Deutschen Verbindungsbüros Kosovo vom 2. April 2004 an die Ausländerbehörde Schwelm vom 7. November 2003 und vom 5. April 2004). Auch bestimmte Herzerkrankungen, die die von der Klägerin zu 2) genannte Medikation und kardiologische Kontrolluntersuchungen erfordern, sind im Kosovo beherrschbar (vgl. die Auskunft des Deutschen Verbindungsbüros Kosovo an die Ausländerbehörde Cuxhaven vom 24. September 2003; für Beta Acetyldigoxin, Deutsches Verbindungsbüro Kosovo vom 1. Juli 2003; für Lasix, erhältlich als Furosemid, Deutsches Verbindungsbüro vom 12. Mai 2004). Gleiches gilt für eine chronische rezidivierende Gastritis (vgl. DeutschesVerbindungsbüro Kosovo vom 9. Februar 2004). Auch chronische LWS-Syndrome einschließlich Schmerztherapie mit Ibuprofen sind behandelbar (vgl. Auskunft des Deutschen Verbindungsbüros Kosovo vom 9. September 2004 und 5. Oktober 2004). Schließlich sind im Kosovo Cholesterinsenker (Simvastatin, z. T. als Zcor erhältlich, Deutsches Verbindungsbüro Kosovo vom 17. Oktober 2003 und vom 24. Februar 2004) zur Behandlung einer Hypercholesterinanämie erhältlich (vgl. Auskunft des Deutschen Verbindungsbüros Kosovo vom 21. April 2004).

Die Klägerin zu 2 ist jedoch in wiederkehrenden Situationen auf eine (kardiologische) Notfallintervention angewiesen. Laut Attest der Gemeinschaftspraxis x vom 22. Dezember 2004 werden bei der Klägerin zu 2) wegen ihrer fortgeschrittenen Herzinsuffizienz auch in den nächsten Monaten immer wieder akute notfallmäßige Krankenhauseinweisungen erforderlich sein. Eine solche Notfallversorgung ist im Kosovo nicht ausreichend gewährleistet. Nach dem jüngsten Lagebericht des Auswärtigen Amtes zur Lage im Kosovo vom 4. November 2004 ist die Wiederherstellung des in den 90er Jahren schwer in Mitleidenschaft gezogenen Gesundheitssektors zwar prioritär, kurz- und mittelfristig aber schwer möglich. Die medizinisch-technische Grundausstattung für regionale Hospitäler komme voran, es werde jedoch häufig über Fälle von Korruption und andere Unregelmäßigkeiten berichtet. Das von IOM in Zusammenarbeit mit der WeItgesundheitsbehörde begonnene Programm zur Evakuierung medizinischer Notfallpatienten aus dem Kosovo sei wegen Finanzmangels wieder eingestellt worden. Die Schweizerische FIüchtlingshilfe berichtet in ihrer Darstellung "Die medizinische Versorgungslage im Kosovo" , Update vom 24. Mai 2004 von deutlichen Kapazitätsproblemen beim medizinischen Personal, der Ausrüstung und den Medikamenten. In Übereinstimmung hiermit führt die Deutsche Botschaft aus, es gebe keinen Ort im Kosovo, wo die Ankunft eines Rettungswagens innerhalb von 30 Minuten garantiert sei. Alles hänge von der Anzahl der Anrufe und den verfügbaren mobilen Rettungsmannschaften ab. Ebenfalls wichtige Faktoren seien die Verkehrsdichte, die Tageszeit, die Straßenqualität und die Entfernung von der Notfallstation. Wer in der Nähe eines medizinischen Zentrums wohne, habe größere Chancen, die medizinische Hilfe rechtzeitig zu erhalten (Auskunft der Deutschen Botschaft an das VG Leipzig vom 3. Juli 2003).

Dass die Kläger als Roma bei einer Rückkehr in den Kosovo eine entsprechende Unterkunft in der Nähe eines geeigneten Krankenhauses finden werden und ihnen die entsprechende Bewegungsfreiheit im Notfall zur Verfügung steht bevor ein Rettungswagen oder ein Notfallarzt oder -team die Klägerin zu 2) rechtzeitig erreicht, ist nicht hinreichend gewährleistet. Zwar tritt damit nach den oben dargelegten Grundsätzen die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG ein, weil eine ausreichende medizinische Versorgung der Klägerin zu 2) nur deshalb nicht möglich sein wird, weil sie als Roma de facto nicht über eine ausreichende Niederlassungs- und Bewegungsfreiheit verfügt (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes zu Serbien und Montenegro -Kosovo- vom 4. November 2004) also aufgrund einer Gefahr, die sie als Mitglied einer ganzen Bevölkerungsgruppe trifft. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG sind vorliegend gleichwohl zu bejahen, weil für die Klägerin zu 2) bei einer Rückkehr wegen der äußersten Gefährdung im Notfall, das heißt der damit verbundenen existentiellen Gefährdung eine Extremgefahr im oben genannten Sinn gegeben ist.

Der Gesundheitszustand der Klägerin zu 2) würde sich auch dann wesentlich verschlechtern, so dass eine erhebliche konkrete Gefährdung von Leib und Leben zu befürchten wäre, wenn sie nicht in den Kosovo, sondern in die übrigen Landesteile Serbiens oder Montenegros zurückkehrte. Ihr steht in diesen Landesteilen eine zumutbare Alternative nicht zur Verfügung. Das Gericht ist nach den vorliegenden Erkenntnismitteln davon überzeugt, dass die Klägerin zu 2) auch in den übrigen Landesteilen Serbiens und in Montenegro eine ausreichende medizinische Versorgung im oben genannten Sinn tatsächlich nicht erlangen könnte. Dabei kann offen bleiben, ob die Erkrankungen der Klägerin zu 2) in Serbien und Montenegro (außerhalb des Kosovo) hinreichend medizinisch behandelt werden können.

Auch Volkszugehörige der Roma und Ashkali werden in Serbien und Montenegro medizinisch behandelt. Diesbezüglich sind Benachteiligungen wegen der Volkszugehörigkeit nicht zu befürchten.

Lediglich die Unsicherheit bzgl. der Erreichbarkeit von Notfallhilfe besteht laut der oben genannten Auskunft der Deutschen Botschaft auch für das übrige Serbien und Montenegro (vgl. Auskunft der Deutschen Botschaft an das VG Leipzig vom 3. Juli 2003).

Die Behandlung ist darüber hinaus jedoch im Rahmen der staatlichen Gesundfürsorge nur dann für den Betroffenen kostenlos, wenn er in der staatlichen Krankenversicherung versichert ist. Der Klägerin zu 2) werden die medizinischen Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitswesens in Serbien und Montenegro (außerhalb des Kosovo) im Rahmen des dortigen Krankenversicherungsschutzes tatsächlich nicht offen stehen. Für die Inanspruchnahme von sozialen Diensten einschließlich der gesetzlichen Krankenversicherung ist in Serbien und Montenegro die Registrierung erforderlich.

Die Registrierung stellt in der Praxis aber ein ernsthaftes Hindernis bei der Ausübung grundlegender Rechte wie dem Zugang zu dem Sozialleistungen, Gesundheitsfürsorge, Bildungseinrichtungen und Wohnraum dar. Für die Registrierung sind eine Reihe von Identitätsunterlagen erforderlich, was insbesondere für aus dem Kosovo geflüchtete Roma ein Problem ist.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 24. Mai 2004, die sich u.a. zur generellen Registrierungsmöglichkeit von Flüchtlingen aus dem Kosovo verhält, nicht jedoch zu den Umständen, unter denen eine solche Registrierung zu erlangen ist.

Eine Registrierung würde möglicherweise schon wegen fehlender Personenstandsurkunden scheitern, denn Personalpapiere für die Klägerin zu 2) liegen offenbar nicht vor.

Das Gericht ist aufgrund der allgemeinen wirtschaftlichen Situation in Serbien und Montenegro und angesichts dessen, dass die Klägerin zu 2) der ohnehin gesellschaftlich benachteiligten Gruppe der Roma angehört, davon überzeugt, dass sie die erforderlichen medizinischen Behandlungen mangels finanzieller Mittel nicht anderweitig erlangen kann.