VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 13.01.2005 - 9 K 5484/03.A - asyl.net: M6407
https://www.asyl.net/rsdb/M6407
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für ehemaliges Mitglied der Nadjibullah-Regierung und seine Familie, da Verfolgung durch Mitglieder der Regierung Karzai wahrscheinlich ist; einfachen früheren Mitgliedern der DVPA, des Geheimdienstes Khad oder der kommunistischen Streitkräfte droht in Afghanistan keine Verfolgung durch Regierung.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Tadschiken, DVPA, Mitglieder, Nadjibullah-Anhänger, Militärstaatssekretär, Funktionäre, Familienangehörige, Ehefrau, Kinder, Sippenhaft, Blutrache
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung für ehemaliges Mitglied der Nadjibullah-Regierung und seine Familie, da Verfolgung durch Mitglieder der Regierung Karzai wahrscheinlich ist; einfachen früheren Mitgliedern der DVPA, des Geheimdienstes Khad oder der kommunistischen Streitkräfte droht in Afghanistan keine Verfolgung durch Regierung.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Kläger haben einen Anspruch auf die Feststellung, dass für sie die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen.

Es bedarf hier keiner Entscheidung, ob die Kläger bei ihrer Ausreise unter dem Druck politischer Verfolgung aus Afghanistan geflüchtet sind. Denn auch wenn dies nicht der Fall war, ist in Anwendung des sog. gewöhnlichen Prognosemaßstabs festzustellen, dass den Klägern bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine asylrechtlich relevante Verfolgung droht.

Nach den der Kammer vorliegenden Erkenntnissen gehen von der Regierung Karzai derzeit zwar regelmäßig keine politischen Verfolgungsmaßnahmen mehr für die unter dem Regime der Taliban gefährdeten Bevölkerungsgruppen, insbesondere die ethnischen und religiösen Minderheiten aus, auch wenn traditionell bestehende Spannungen zwischen Angehörigen verschiedener Ethnien lokal in unterschiedlicher Intensität fortbestehen. Auch Personen, die der DVPA, dem Geheimdienst Khad oder den kommunistischen Streitkräften in herausgehobenen Positionen angehört haben, droht derzeit keine politische Verfolgung durch die Regierung Karzai.

Die Kläger gehören jedoch unter Berücksichtigung ihrer Angaben zu dem Personenkreis, der bei einer Rückkehr nach Afghanistan weiterhin gefährdet ist. Der Kläger zu 1. hat überzeugend dargelegt, dass er unter der Regierung Nadjibullah als Militär-Staatssekretär und Stellvertreter des Ministers für Fernmeldewesen für die Wiederherstellung der durch die Kämpfe mit den Mudjaheddin zerstörten Kommunikationsverbindungen zwischen Kabul und den Provinzen zuständig war. Bereits aufgrund seiner formalen Stellung ist der Kläger zu 1. als hochrangiger Repräsentant des früheren kommunistischen Herrschaftssystems anzusehen. Hinzu kommt, dass seine Funktion für die Auseinandersetzungen von kriegswichtiger Bedeutung war. Es ist daher nachvollziehbar, dass der Kläger zu 1. den Führern der verschiedenen Gruppierungen der Mudjaheddin durch seine Tätigkeit bekannt war und unmittelbar nach dem Machtwechsel im April 1992 intensiv nach ihm gesucht wurde. Die Kammer hält es auch für glaubhaft, dass es dem Kläger und seiner Familie nur aufgrund ihrer verwandtschaftlichen Beziehungen gelungen ist, sich über mehrere Jahre einer Verfolgung erfolgreich zu entziehen. Sie geht weiter davon aus, dass der Kläger von seinen früheren Gegnern auch weiterhin als Kommunist und Feind angesehen wird. Angesichts des Umstandes, dass in der gegenwärtigen Übergangsregierung zahlreiche der Mudjaheddin-Gruppen, die gegen das kommunistische Regime gekämpft haben, an führender Stelle vertreten sind oder zumindest Einfluss auf sie haben (vgl. dazu Danesch, Gutachten vom 24.07.2004 für Sächsisches OVG), besteht eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Kläger zu 1. von Mitglieder der Regierung für seine frühere Tätigkeit verantwortlich gemacht wird, auch wenn die Regierung offiziell ehemalige Kommunisten nicht verfolgt. Auch das Auswärtige Amt geht davon aus, dass eine Gefährdung - auch an Leib und Leben - hochrangiger früherer Repräsentanten der DVPA, bzw. herausragender Militärs und Polizeirepräsentanten sowie des Geheimdienstes Khad der kommunistischen Zeit durch Teile der Bevölkerung als mögliche Reaktion auf frühere Menschenrechtsverletzungen nicht ausgeschlossen werden kann (vgl. Lageberichte vom 06.08.2003, 22.04.2004 und 03.11.2004).

Es bestehen Hinweise darauf, dass einzelne Regierungsmitglieder in eigener Verantwortung Verfolgung, Repression und auch Tötung ehemaliger Feinde gutheißen (vgl. Lageberichte vom 22.04.2004 und 03.11.2004).

Unter dem Gesichtspunkt der in Afghanistan praktizierten Sippenhaft und Blutrache (vgl. dazu Danesch, Gutachten vom 24.07.2004 für Sächsisches OVG), wären auch die Kläger zu 2. bis 4. als Ehefrau bzw. Kinder des Klägers zu 1. in ähnlicher Weise gefährdet.