VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 13.01.2005 - 9 K 5560/03.A - asyl.net: M6411
https://www.asyl.net/rsdb/M6411
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung eines afghanischen Staatsangehörigen wegen Übertritts zum christlichen Glauben (Fortschreibung der Rspr. der Kammer).

 

Schlagwörter: Afghanistan, Paschtunen, Christen, Konversion, DVPA, KHAD, Mitglieder, Nadjibullah, Leibwächter, Haft, Folgeantrag, Änderung der Sachlage, Übergangsregierung, Gebietsgewalt, Scharia, Änderung der Rechtslage, Zuwanderungsgesetz, Nichtstaatliche Verfolgung, religiös motivierte Verfolgung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 71 Abs. 1; VwVfG § 51
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung eines afghanischen Staatsangehörigen wegen Übertritts zum christlichen Glauben (Fortschreibung der Rspr. der Kammer).

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Kläger hat einen Anspruch auf die Feststellung, dass für ihn die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes - AufenthG vorliegen.

Entgegen der in dem angefochtenen Bescheid vertretenen Ansicht ist nach Stellung des Folgeantrags durch den Kläger gemäß § 71 Abs. 1 des Asylverfahrensgesetzes - AsylVfG - ein weiteres Asylverfahren durchzuführen, da sich die Sach- und Rechtslage nachträglich gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes - VwVfG - zugunsten des Asylbegehrens des Klägers geändert hat. Die Entwicklung der innenpolitischen Verhältnisse nach Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung im ersten Asylverfahren, insbesondere die Übernahme der Herrschaft durch die Taliban und ihre spätere Entmachtung sowie die zwischenzeitlich erfolgte Bildung einer Übergangsregierung haben zu einer asylrechtlich erheblichen Änderung der Situation geführt.

Hinzu kommt, dass sich auch die Rechtslage durch das Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes zum 01.01.2005 nachträglich zugunsten des Klägers geändert hat und nunmehr ein Anspruch auf die Feststellung besteht, dass für ihn die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen.

Nach den der Kammer vorliegenden Erkenntnissen gehen von der Regierung Karzai derzeit zwar regelmäßig keine politischen Verfolgungsmaßnahmen mehr für die unter dem Regime der Taliban gefährdeten Bevölkerungsgruppen, insbesondere die ethnischen und religiösen Minderheiten aus, auch wenn traditionell bestehende Spannungen zwischen Angehörigen verschiedener Ethnien lokal in unterschiedlicher Intensität fortbestehen. Auch Personen, die der DVPA, dem Geheimdienst Khad oder den kommunistischen Streitkräften nicht in herausgehobenen Positionen angehört haben, droht derzeit keine politische Verfolgung durch die Regierung Karzai.

Der Frage, ob der Kläger wegen der von ihm geltend gemachten Tätigkeit als Offizier im Geheimdienst Khad und als Bodyguard des früheren Staatspräsidenten Najibullah, zu dem noch gefährdeten Personenkreis gehört; braucht nicht weiter nachgegangen zu werden, da er schon aus anderen Gründen die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG erfüllt.

Eine asylrechtlich relevante Verfolgung droht dem Kläger bereits mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wegen seines Übertritts vom moslemischen zum christlichen Glauben. Der Kläger hat bereits in seinem ersten Asylverfahren vorgetragen, dass er sich im Jahre 1994 in Usbekistan zum christlichen Glauben bekannt hat. Mit seinen christlichen Ausführungen im Folgeantragsverfahren und den ergänzenden Angaben in der mündlichen Verhandlung sowie den vorgelegten Auszügen aus dem Geburten- und Taufregister der serbisch-orthodoxen Kirchengemeinde HI. Basilius von Ostrog zu Bielefeld vom 16.12.1998 und der Stellungnahme der Evangeliums Christengemeinde Herford vom 06.08.1998 hat der Kläger zur Überzeugung des Gerichts nachgewiesen, dass seine Konversion auf einem ernst gemeinten religiösen Einstellungswandel beruht und nicht lediglich im Hinblick auf das anhängige Asylverfahren erfolgte. Bereits unter der Herrschaft der Taliban mussten Konvertiten zum Christentum mit der Todesstrafe rechnen, wenngleich Fälle der Verhängung der Todesstrafe der deutschen Botschaft in Islamabad nicht bekannt geworden sind (Bericht der Deutschen Botschaft Islamabad vom 12.07.2001 - juris -). Es ist auch derzeit nicht erkennbar, dass sich die Einstellung staatlicher Stellen gegenüber Konvertiten unter der Übergangsregierung Karzais in erheblicher Weise geändert hat. Die am 26.01.2004 in Kraft getretene neue Verfassung Afghanistans enthält in Artikel 3 einen Islamvorbehalt (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 03.11.2004) und Hamid Karzai selbst hat Afghanistan als islamisches Land bezeichnet (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 02.12.2002). In der islamischen Rechtslehre besteht Einverständnis darüber, dass der Abfall vom Glauben ein todeswürdiges Verbrechen ist (vgl. Danesch, Gutachten vom 13.05.2004 für VG Braunschweig; s.a. Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 03.01.2002 (betreffend Ägypten) für das VG Schwerin -juris -). Dies wird auch in Afghanistan so gesehen (vgl. UNHCR vom 23.10.2003 a.a.O., Abschnitt II (vi); European Commission, Country Report by the Netherlands on the Situation in Afghanistan (19.08.2002), S. 38). Die Bedeutung des islamischen Rechts im afghanischen Staatswesen wird auch dadurch unterstrichen, dass die Scharia in Kabul praktiziert wird (vgl. Danesch, Gutachten vom 21.05.2003 für VG Braunschweig, S. 5; vom 18.02.2003 für VG Gießen, S. 5 und vom 29.01.2003 für VG Wiesbaden, S. 7). Selbst wenn noch unklar ist, wie sich die Scharia weiter auf die afghanische Justiz auswirken wird (vgl. Danesch, Gutachten vom 29.01.2003 a.a.O., S. 8; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan - die aktuelle Situation, Updates vom 03.03.2003 und 01.03.2004) ist davon auszugehen, dass Konvertiten staatlicherseits bedroht sind. Dies zeigt sich u.a. in der Einrichtung religiös motivierter staatlicher Stellen und der Besetzung staatlicher Posten.

Insgesamt betrachtet besteht für den Kläger bei einer Rückkehr und einem Bekanntwerden seiner Konversion in Afghanistan eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass er wegen des Abfalls vom islamischen Glauben Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt wäre, die der Übergangsregierung zuzurechnen wären oder gegen die er jedenfalls keinen Schutz durch diese erhalten würde.