VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 24.02.2005 - 4 K 2206/02.A - asyl.net: M6493
https://www.asyl.net/rsdb/M6493
Leitsatz:

Keine nichtstaatliche Verfolgung von chaldäischen Christen aus dem Irak.

 

Schlagwörter: Vorverfolgung, Herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungsbegriff, Nichtstaatliche Verfolgung, Irak, Übergangsregierung, Christen, Chaldäer, Religiös motivierte Verfolgung, Interne Fluchtalternative, Nordirak, Kriminalität, Terrorismus, Versorgungslage, Medizinische Versorgung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Keine nichtstaatliche Verfolgung von chaldäischen Christen aus dem Irak.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Nach § 60 Abs. 1 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist, wobei eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch dann vorliegen kann, wenn die Bedrohung allein an das Geschlecht anknüpft. Für den Abschiebungsschutz nach dieser Vorschrift gelten somit, anders als für die Vorgängervorschrift des § 51 Abs. 1 AuslG, nicht uneingeschränkt die gleichen Grundsätze wie für die Auslegung des Art. 16a Abs. 1 des Grundgesetzes, da nach § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. c) AufenthG die Verfolgung auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen kann, ohne dass es auf die Existenz einer staatlichen Herrschaftsmacht und damit auf die von der bisherigen Zurechnungslehre (vgl.: BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/86 - BVerfGE 80, 316; BVerwG, Urteil vom 15. April 1997 - 9 C 15.96 -) geforderte grundsätzliche Schutzfähigkeit des Staates ankommt. Damit geht der Begriff der Verfolgung in § 60 Abs. 1 AufenthG über den Verfolgungsbegriff in Art. 16a GG hinaus.

Für die Beurteilung, ob sich ein Schutzsuchender auf die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG berufen kann, gelten unterschiedliche Maßstäbe: Hat er seinen Heimatstaat auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen und war ihm auch ein Ausweichen innerhalb seines Heimatstaates unzumutbar (Vorverfolgung), so ist Asyl bzw. Abschiebungsschutz zu gewähren, wenn der Asylsuchende im Zeitpunkt der Entscheidung vor erneuter Verfolgung nicht hinreichend sicher ist (herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab). Die hinreichende Sicherheit vor Verfolgung ist dann nicht gegeben, wenn über die bloße Möglichkeit hinaus, Opfer eines erneuten Übergriffs zu werden, objektive Anhaltspunkte eine Wiederholung der ursprünglichen oder aber das erhöhte Risiko einer gleichartigen Verfolgung als nicht ganz entfernt und damit als "reale" Möglichkeit erscheinen lassen (Vgl.: BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/86 -, BVerfGE 80, 315, 344 f.; BVerwG, Urteil vom 15. Mai 1990 - BVerwG 9 C 17.89 -, BVerwGE 85, 139, 140 f.).

Hat der Asylsuchende seinen Heimatstaat hingegen unverfolgt verlassen, so kann sein Asylantrag nur Erfolg haben, wenn ihm aufgrund von beachtlichen Nachfluchttatbeständen politische Verfolgung auf der Grundlage des nicht herabgestuften Maßstabes der beachtlichen Wahrscheinlichkeit droht.

Das Aufenthaltsgesetz weicht in § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. c) AufenthG am Ende von diesen Grundsätzen allerdings insofern ab, als es bei der Prüfung, ob Verfolgung von nichtstaatlichen Akteuren ausgeht, das Ausschlusskriterium der innerstaatlichen Fluchtalternative einführt. Unter Berücksichtigung dessen, dass die Frage der Vorverfolgung nur Bedeutung für den Maßstab hat, den das Gericht seiner Prognoseentscheidung zu Grunde zu legen hat, ist die Unterscheidung zwischen Verfolgung durch staatliche und quasistaatliche Akteure einerseits und nichtstaatliche Akteure andererseits mithin so auszulegen, dass im Falle der staatlichen oder quasistaatlichen Vorverfolgung regelmäßig - wie oben bereits dargelegt - der herabgesetzte Prognosemaßstab zur Anwendung kommen soll, während dies bei Verfolgung durch Private nur dann geschehen soll, wenn festgestellt worden ist, dass dem Abschiebungsschutzsuchenden zum Zeitpunkt seiner Ausreise keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung stand. Ausgehend von diesen Maßstäben steht dem Kläger kein Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG zu. Dies folgt betreffend § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. a) und b) AufenthG bereits daraus, dass das bisher herrschende Baath-Regime in der zweiten Aprilwoche 2003 zusammengebrochen ist und keine staatliche Macht im Irak mehr ausübt (vgl.: Auswärtiges Amt, ad-hoc-Berichte vom 7. August und vom 6. November 2003), so dass sich jedenfalls im jetzigen Zeitpunkt die hinreichende Gefahr einer politischen Verfolgung im Irak durch dieses Regime nicht (mehr) feststellen lässt. Der Kläger ist auch durch keine andere staatliche Organisation von politischer Verfolgung bedroht. Dabei kann dahinstehen, ob als Bezugspunkt für die Prüfung der Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung die irakische Übergangsregierung oder die alliierten Besatzungsmächte in Betracht zu ziehen sind.

Letztlich ist hingegen nicht entscheidungsrelevant, wer im Irak im asylrechtlichen Sinne effektiv und stabilisiert die Herrschaftsmacht ausübt. Sind dies noch die Besatzungsmächte, gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger durch sie Verfolgung droht. Ist als Herrschaftsmacht die noch im Amt befindliche Übergangsregierung anzusehen, sind Verfolgungsmaßnahmen durch sie genauso wenig ersichtlich.

Der Kläger kann sich auch nicht mit Erfolg auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. c) AufenthG berufen. Denn unabhängig davon, ob der Kläger als Chaldäer einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne dieser Vorschrift angehört oder nicht, kann derzeit nicht davon ausgegangen werden, dass ihm im Irak wegen seines Glaubens asylrelevante Verfolgung durch nicht staatliche Akteure droht. Zwar ist es seit dem Sturz des Baath-Regimes zu Übergriffen gegen Alkoholläden und deren christliche Besitzer sowie vereinzelt gegen christliche Kirchen gekommen. Insbesondere im schiitisch dominierten Süden des Landes gibt es Anzeichen für eine zunehmende Islamisierung des öffentlichen Lebens, indem zum Beispiel Druck auf Frauen ausgeübt wird, Kopftücher zu tragen. Generelle Misshandlungen oder gar Verfolgungen von Christen allgemein wegen ihrer Religionszugehörigkeit lassen sich aber derzeit nicht feststellen (vgl.: OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 24. Januar 2005 - 10 A 10001/05.OVG -; OVG Niedersachsen, Beschluss vom 24. November 2004 - 9 LA 323/04 - in: Asylmagazin 1-2/2005; AA, ad-hoc-Bericht vom 7. Mai 2004; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Irak, "Die aktuelle Lage" vom 20. Mai 2004).

Zudem müsste sich der Kläger insoweit auf die kurdisch verwalteten Gebiete des Nordirak als inländische Fluchtalternative verweisen lassen, in denen bekanntermaßen viele Chaldäer mit gleicher Glaubenszugehörigkeit wie der Kläger unbehelligt leben. Dass der Kläger der kurdischen Sprache nicht mächtig ist, stünde seiner Existenz im Nordirak nicht entgegen, da er sich dort auch in der arabischen oder chaldäischen Sprache verständigen kann. Es ist deshalb davon auszugehen, dass der Kläger als Christ dort keinen Misshandlungen und Drohungen ausgesetzt ist (vgl.: Allgemeen Ambtsbericht Noord-Irak des Niederländischen Außenministeriums in Den Haag vom 23. Oktober 2002).

Die Voraussetzungen eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 AufenthG sind ebenfalls nicht gegeben, denn von einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit des Klägers kann nicht ausgegangen werden.

Zwar ist die allgemeine Kriminalität im Irak seit dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein stark angestiegen und ereignen sich nahezu täglich Terrorakte mit Toten und Verletzten. Es kann jedoch nicht außer Betracht bleiben, dass sich diese Anschläge in erster Linie gegen Soldaten der Besatzungsstreitkräfte und gegen Angehörige anderer ausländischer Staaten oder Organisationen richten sowie gegen Iraker, die mit diesen Stellen zusammenarbeiten. Für andere Bevölkerungsgruppen kann vor diesem Hintergrund von einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben nicht ausgegangen werden.