VG Münster

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Zitieren als:
VG Münster, Urteil vom 17.01.2005 - 9 K 4750/03.A - asyl.net: M6510
https://www.asyl.net/rsdb/M6510
Leitsatz:
Schlagwörter: Sierra Leone, RUF, Kämpfer (ehemalige), Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, Übergriffe, Situation bei Rückkehr, Alleinstehende Personen, soziale Bindungen, Versorgungslage, Arbeitslosigkeit
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Der Kläger hat keine durchgreifenden Umstände vorgetragen, die eine Verfolgung im Sinne des Art. 16a GG oder des § 60 Abs. 1 AufenthG begründen würden. Sofern er darauf verweist, er habe Angst vor einer Rückkehr, weil er mit Angehörigen der "Junta" gesehen worden sei, gilt Folgendes: Er hat im Fall seiner Rückkehr nicht zu befürchten, dass Private wegen seiner ehemaligen Zugehörigkeit zur RUF auf ihn übergreifen. In den Monaten vor Februar 2002 kam es zu keinen solchen Übergriffen Privater gegen ehemalige Rebellen und Milizen, die wieder in das Zivilleben zurückkehrten (AA vom 27. Februar 2002). Im Übrigen besteht jedenfalls in der Umgebung Freetowns eine Schutzbereitschaft und -fähigkeit der sierra-leonischen Regierung, und der internationalen Gemeinschaft, sodass eine rechtlich erhebliche Verfolgungshandlung nicht vorliegt (§ 60 Abs. 1. Satz 4 c) AufenthG). Von der Schutzbereitschaft der amtierenden Regierung von Sierra Leone ist auszugehen. Sie hat - mit Hilfe der UN-Truppen - inzwischen wieder die Kontrolle über alle Landesteile (AA vom 18. Mai 2004; AA vom 27. Februar 2002; ai vom 24. Januar 2002).

Der Antrag des Klägers hat hingegen insoweit Erfolg, als ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG in Bezug auf Sierra Leone besteht. Im Fall der Rückkehr des Klägers nach Sierra Leone ist davon auszugehen, dass eine konkrete Gefährdungslage für ihn besteht. Ausweislich der aktuellen Erkenntnislage verfügt Sierra Leone über keine Möglichkeiten, alleinstehende Personen, die in das Land zurückkehren und über keine sonstigen sozialen Netzwerke verfügen, aus eigener Kraft zu reintegrieren und zu versorgen. Solche Menschen sind meist auf ihr individuelles Improvisations- und Durchsetzungsvermögen im alltäglichen Überlebenskampf angewiesen. Dies erweist sich angesichts von Massenarmut und Massenarbeitslosigkeit als eine äußerst schwierige Aufgabe, die den einzelnen Menschen, wie die (negativen) Statistiken der Vereinten Nationen etwa bezüglich der Lebenserwartung in Sierra Leone nahe legen, oft überfordert (Institut für Afrika-Kunde, Auskunft an das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht vom 19. Mai 2004). Infrastruktur und Gesundheitswesen sind trotz Unterstützung durch die internationale Gebergemeinschaft - besonders in den vom Bürgerkrieg am schwersten betroffenen Gebieten im Osten des Landes - weiterhin inadäquat. Ein großes Problem ist auch die große Zahl arbeitsloser Jugendlicher und Ex-Kombattanten, denen trotz verschiedener "Reintegrationsmaßnahmen" jegliche Perspektiven auf Beschäftigung und Einkommensbeschaffung fehlen, um ihre Existenz zu sichern (Auswärtiges Amt, Auskunft an das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht vom 18. Mai 2004). Eine staatliche Versorgung existiert nicht (Auswärtiges Amt, Auskunft an. das BAFl vom 3. August 2004). Die vorliegenden Erkenntnisse sind aktuell und hinreichend geeignet, dem Gericht eine Überzeugung über die lebensbedrohlichen Umstände für Rückkehrer in Sierra Leone zu vermitteln. Anhaltspunkte dafür, dass sich die Lage mittlerweile entspannt hätte, hat das Gericht nicht; sie sind auch von der Beklagten nicht geltend gemacht worden.