VG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Urteil vom 05.01.2005 - 4 A 233/04 - asyl.net: M6577
https://www.asyl.net/rsdb/M6577
Leitsatz:

Keine Abschiebungsandrohung nach Aserbaidschan für Armenier, die die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit nicht erlangt oder sie wieder verloren haben und die daher nicht zurückkehren können.

 

Schlagwörter: Aserbaidschan, Armenier, Staatsangehörigkeit, Sowjetunion, Ausbürgerung, Russland, Gewöhnlicher Aufenthalt, Staatenlose, Abschiebungsandrohung, Zielstaatsbezeichnung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Keine Abschiebungsandrohung nach Aserbaidschan für Armenier, die die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit nicht erlangt oder sie wieder verloren haben und die daher nicht zurückkehren können.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Ein Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (entspricht § 51 Abs. 1 AuslG a.F.) besteht ebenfalls nicht.

Die Klägerin ist keine aserbaidschanische Staatsangehörige. Das erkennende Gericht geht davon aus, dass ehemalige Bewohner der Aserbaidschanischen SSR in Fällen der vorliegenden Art die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit nicht erworben haben (Rechtskräftiges Urteil der Kammer vom 14.04.2004, 4 A 54/01).

Aber auch dann, wenn man davon ausgeht, dass die Klägerin die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit nach dem Staatsangehörigkeitsgesetz von 1990 ursprünglich erworben hat, wäre sie im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) nicht (mehr) als aserbaidschanische Staatsangehörige anzusehen. Sie hat nämlich die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit jedenfalls nach dem Staatsangehörigkeitsgesetz vom 30.9.1998 wieder verloren. Nach Art. 5 Abs. 1 dieses Gesetz besitzen Personen die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit (weiterhin), die die Staatsangehörigkeit im Zeitpunkt des Inkrafttreten dieses Gesetzes (lt. Botschaft Baku vom 12.02.2000 an AA:, Nr. 82 Erkenntnismittelliste Aserbaidschan: 30.09.1998; lt. Rat der Europäischen Union vom 1.9.2000 an CIREA, Nr. 85 c der Erkenntnismittelliste Aserbaidschan: 6.10.1998) besaßen. Als Grundlage für das Fortbestehen der Staatsangehörigkeit wird ausdrücklich die "Meldung der Person an ihrem Wohnsitz in der Republik Aserbaidschan am Tag des Inkrafttreten dieses Gesetzes" genannt. Damit wird ausdrücklich auf die Existenz eines faktischen Wohnsitzes und die amtliche Meldung an diesem Wohnsitz abgestellt. Die Klägerin hatte aber zum fraglichen Zeitpunkt keinen faktischen Wohnsitz in Aserbaidschan mehr, so dass sie jedenfalls zu diesem Zeitpunkt die Staatsangehörigkeit verloren hat. Bei dieser Lesart stellt Art. 5 Ziff. 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1998 für alle diejenigen, welche die Voraussetzungen nicht erfüllen, einen Verlusttatbestand dar i. S. d. Art. 16 Ziff. 4 des Gesetzes dar (a. A. OVG Lüneburg, Beschluss v. 24.11.2003, 13 LB 179/03, das wohl von einem Nichterwerb einer "neuen" Staatsangehörigkeit ausgeht).

Eine entsprechende Prüfung ist auch im Hinblick auf Russland entbehrlich. Die russische Staatsangehörigkeit hat die Klägerin nicht erworben. Sie hat nach ihren glaubhaften Angaben illegal ohne Papiere in der Russischen Föderation gelebt. Nur solche sowjetischen Binnenflüchtlinge, die seit Inkrafttreten des russischen Staatsangehörigkeitsgesetzes vom 28.11.1992 ständig in Russland registriert waren, erwarben automatisch die russische Staatsbürgerschaft (AA v. 10.08.2000 an VG Leipzig, Nr. 85 a der Erkenntnismittelliste Aserbaidschan). Russland kann auch nicht als Land des gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne von § 3 AsylVfG angesehen werden. Zwar büßt ein Staat seine Eigenschaft als Land des gewöhnlichen Aufenthaltes nicht allein dadurch ein, dass der Staatenlose ihn verlässt und in der Bundesrepublik Deutschland Asyl beantragt. Eine Änderung tritt insoweit jedoch dann ein, wenn er den Staatenlosen - aus im asylrechtlichen Sinne nicht politischen Gründen - ausweist oder ihm die Wiedereinreise verweigert, nachdem er das Land verlassen hat. Er löst damit seine Beziehung zu dem Staatenlosen und hört auf, für ihn Land des gewöhnlichen Aufenthalts zu sein. Er steht dann dem Staatenlosen in gleicher Weise gegenüber wie jeder andere auswärtige Staat. Die Frage, ob dem Staatenlosen auf seinem Territorium politische Verfolgung droht, wird unter asylrechtlichen Gesichtspunkten gegenstandslos (BVerwG, NVwZ 1986, 759 f). Diese Voraussetzungen liegen vor, da russische Behörden nach den vorliegenden Erkenntnissen in der Regel keine Passersatzpapiere für staatenlose ehemalige Sowjetbürger zur Einreise nach Russland ausstellen, wobei ethnische oder andere asylerhebliche Merkmale keine Rolle spielen (Auskunft des Auswärtigen Amtes an VG Schleswig v. 14.10.1999, Nr. 158 Erkenntnismitteliste Russland).

3.) Soweit der Klägerin die Abschiebung nach Aserbaidschan angedroht worden ist, ist die Abschiebungsandrohung aufzuheben. Zwar muss das Gericht grundsätzlich in einem Asylstreitverfahren das Vorliegen von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG prüfen, wenn es hierauf ankommt. Hat das Bundesamt bezüglich eines bestimmten Zielstaates festgestellt, dass keine Abschiebungshindemisse nach § 53 AuslG vorliegen und gleichzeitig gemäß § 34 Abs. 1 S. 1 AsylVfG die Abschiebung in diesen Staat angedroht, so ist diese Entscheidung grundsätzlich umfassend zu prüfen. Dies gilt auch in den Fällen, in denen aus tatsächlichen Gründen wenig oder keine Aussicht besteht, den Ausländer in absehbarer Zeit abschieben zu können. Das Bundesamt ist ermächtigt, eine "Vorratsentscheidung" zu § 53 AuslG zu treffen und dem Asylsuchenden damit die gerichtliche Überprüfung einer derartigen Entscheidung zu eröffnen, um diese Frage möglichst frühzeitig zu klären.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 10.07.2003, 1 C 21/02) darf ein Gericht jedoch ausnahmsweise von der Prüfung absehen, ob Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG bezüglich des Zielstaates vorliegen und die Zielstaatsbezeichnung aufheben. Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Entscheidung im Falle eines staatenlosen Kurden aus Syrien getroffen, welcher einem strikten Einreiseverbot unterliegt.

Im vorliegenden Fall ist eine vergleichbare Situation gegeben. Die Klägerin kann auf unabsehbare Zeit weder abgeschoben werden noch freiwillig nach Aserbaidschan zurückkehren. Nach den vorliegenden Erkenntnissen werden aus Aserbaidschan stammenden Armeniern und ihren Familienangehörigen, die das Land vor dem 01.01.1991 verlassen haben, keine Papiere für eine (Wieder-)Einreise nach Aserbaidschan ausgestellt. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Gerichts sowie des OVG Lüneburg (Beschluss vom 24.11.2003, 13 LB 179/03), des VG Braunschweig (Urteil vom 04.12.2002, 8 A 546/01), des OVG Münster (Beschluss vom 14.03.2001, 11 A 5348/98.A) sowie des VG Oldenburg (Urteil vom 10.11.2003, 1 A 4315/01) hat der genannten Personenkreis entweder die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit zu keinem Zeitpunkt erlangt, oder sie aber zwar erlangt, aber zu einem späteren Zeitpunkt (nämlich mit dem Inkrafttreten des Staatsangehörigkeitsgesetzes aus dem Jahre 1998) wieder verloren bzw. ist von einem (de facto) Verlust der Staatsangehörigkeit auszugehen bzw. davon, dass Aserbaidschan gegenüber diesem Personenkreis faktisch die Rolle eines nicht zur Aufnahme bereiten Drittstaates angenommen hat. Unter diesen Umständen wäre es nicht verfahrensökonomisch, wenn das Gericht gleichwohl gezwungen wäre, das Gerichtsverfahren zur Klärung der praktisch bedeutungslosen, rein theoretischen Frage fortzuführen, ob einer auf unabsehbare Zeit undurchführbaren Abschiebung des Ausländers in den betreffenden Zielstaat zwingende Hindernisse im Sinne des § 53 AuslG entgegen stehen. In einem solchen Fall darf die Abschiebungsandrohung hinsichtlich eines bestimmten Zielstaats als rechtswidrig aufgehoben werden, wenn aufgrund der Prüfung des Asylbegehrens zweifelsfrei feststeht, dass eine Androhung auf Vorrat den vom Gesetzgeber verfolgten Ermächtigungszweck ausnahmsweise verfehlt und eine zwangsweise Abschiebung und eine freiwillige Rückkehr in diesen Staat praktisch auf unabsehbare Zeit unmöglich erscheinen.